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Blogpost aus Mora


2025-06-06

Schulbesuch im Naturkundemuseum - Kapitel 3 - Teil 4

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„Ich hatte mich auch schon darüber gewundert“, meinte das Fuchsmädchen. „Ghuls sind doch Trolle, oder? Wir haben das doch erst vor ein paar Wochen im Unterricht durchgenommen.“ „Dies ist auch technisch gesehen nicht falsch“, erklärte Petrus. „Das war auch vor ein paar Wochen noch die gängige Lehrmeinung. Doch im letzten Monat hat es hier in der Akademie eine Konferenz mit den führenden Anthropologen gegeben, bei der man letztendlich zu dem Schluss kam, dass der Ghul nicht ein Troll ist. Und nicht einfach nur ein naher Verwandter des Menschen. Sondern sein nächster.“ „Das kann nicht Ihr Ernst sein!“, entfuhr es Gabriel und nicht wenige seiner Mitschüler teilten seine Empörung. Brigit warf Petrus einen besorgten Blick zu, sicher die nächste Eskalation befürchten. Doch so viele Überraschungen der heutige Tag auch bislang den Studenten während ihrer Führungen entgegengeworfen hatte, so war Petrus für diese Konfrontation mental vorbereitet gewesen, denn er wusste, dass vielen es nicht behagte, dem Ghul so nahe gestellt zu werden. Dabei sollte doch gerade diese Verwandtschaft offensichtlich sein und es stellte eine Schande dar, dass die Wissenschaft feige sich ignoranten Gemütern gebeugt hatte, indem sie den Ghul lange als Troll klassifiziert hatte, anstatt, wie sie endlich es getan hatte, ihn mit der Bezeichnung „Homo gul“ neben den „Homo sapiens“ zu stellen. „Es ist mein Ernst“, erwiderte Petrus mit bewusst ruhiger Stimme, so wie er zuvor den Jungen um den Kompromiss bat. „Es ist für mich nahezu unmöglich, einen anderen Schluss zu haben. Denn so vieles deutet auf diese nahe Verwandtschaft hin.“ Er deutete von den Skeletten weg auf eine nahe Wand, an der ein Plakat mit Abbildungen zu den verschiedenen Menschenaffen hing. Ein veraltetes Plakat, denn auf jenem kauerte der Ghul unter den Trollen. Doch trotz oder gerade wegen dieser Ungenauigkeit fiel dieses Wesen mehr auf, denn es war das einzige Wesen unter den Trollen, welches kein Fell hatte. Zugebenerweise teilte der Ghul diese Felllosigkeit nicht nur mit den Menschen, sondern auch mit den Riesen, ohne aber wiederum die vor Kälte schützenden Fettpolster des letzteren zu haben. „Seht euch doch an, wie der Ghul aussieht. Sein gesamter Körper gleicht einem menschlichen sehr.“ „So, als hätte man einen Menschen zu einem Monstrum verzerrt …“, kam es von dem Fuchsmädchen, ihren Schwanz nachdenklich umher wedelnd, während sie das Plakat anstarrte, sehend, was Petrus ihr zeigen wollte. Anschließend sah sie ihn mit großen Augen, in denen eine tiefe Furcht hochschimmerte, an: „Aber sind die Ghuls wirklich unsere nächsten Verwandten? Diese Scheusale?“
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Da sie bislang, nachdem sie ihre anfängliche Scheue abgelegt hatte, wie ein Schwamm alles von den Studenten angebotene Wissen aufgesaugt hatte, nahm Petrus ihre aus Furcht geborene Skepsis äußerst ernst: „Ich kann persönlich nur sehr gut verstehen, warum das schwer zu akzeptieren ist. Wir alle hören schließlich all die Schreckensgeschichte über menschenfressende Ghuls und für mich, der auf dem Land aufgewachsen ist, sind es mehr als nur Geschichten. Mehrmals musste ich Ghuls in der Dämmerung zwischen den Bäumen des nahen Waldes umherhuschen sehen und einmal überfiel mich sogar einer.“ Ein alter Schauer brach aus Petrus Rücken heraus, als er sich daran erinnerte, wie er als Junge vom Ghul am Arm gepackt umhergeschleudert wurde, während er alle Gebete ausschrie, die er kannte. „Mich auch!“, offenbarte das Fuchsmädchen zu seinem Schreck, nur um verlegen zu konkretisieren: „Na ja, nicht ganz. Ich sah aus dem Fenster einen aus der Dole steigen. Zum Glück hat ein Polizist ihn totgeschossen.“ Leider hörte man immer wieder davon, dass ein Ghul, trotz der starken Mühe der Kanalarbeiter, hochkam. Nur gut, dass es noch viele andere tapfere Männer und Frauen in Vitrotis gab, auf die man sich verlassen konnte. „Worauf ich hinauswill, ist, dass diese tiefe Furcht, die wir gegenüber Ghuls empfinden, vermutlich ebenfalls ein Merkmal ist, welches wir von unseren Vorfahren geerbt haben.“ „Geerbt haben?“, legte das Fuchsmädchen den Kopf schräg an. Petrus erläuterte: „Vieles von dem, was den Ghul uns so sehr ähneln lässt, ist auch für seine Gefährlichkeit verantwortlich.“ „Meinen Sie, weil Sie wie wir Werkzeuge nutzen können?“, versuchte das Fuchsmädchen zu begreifen und sie deutete auf die Steinaxt in der Hand des Skelettes des Ghuls. „Ja, denn dies ist ein Aspekt ihres Seins, welcher ihre Intelligenz beweist, die so nahe an die unsere hereinreicht. Sie können, wie wir, sich komplizierte Hilfsmittel schaffen, mit denen sie ihre Umwelt manipulieren. Zudem wissen sie diese auf vielfältige Art und Weisen zu nutzen. Wie zum Beispiel uns Menschen Fallen zu stellen. Wobei es auch für ihren Vorteil – und zu unserem Nachteil – erweist, dass sie ebenfalls in Gemeinschaften, wenn auch nur in kleinen Stämmen, bewegen und sich dementsprechend organisieren können. Im Vergleich mit den heutigen Menschen mögen sie zurecht primitiv erscheinen. Doch unseren Vorfahren, die als Urmenschen noch in Höhlen hausten, dürften sie ebenbürtig gewesen sein.“ „In eben jenen Höhlen, wo die Ghuls lauerten“, hauchte das Fuchsmädchen und ihre Augen flimmerten vor Angst. Ihre kindliche Fantasie malte sich wohl gerade aus, wie sie als ein Pelz tragendes Höhlenmädchen sich solch einem Scheusal in einer finsteren Höhle gegenübersah. Petrus nutzte sofort dieses Schreckensbild: „Kannst du dir denken, was das Schlimmste an solch einer Begegnung wäre? Du wüsstest nicht sofort, ob es ein Ghul oder ein Mitmensch ist. Dies könnte dich zögern lassen und dich so um die wertvollsten Sekunden berauben, die über Leben oder Tod entscheiden.“ „Aber niemand ist doch so blöd, einen Ghul mit einem Menschen zu verwechseln“, bezweifelte ein anderer Schüler, worauf Petrus ihn einen fragenden Blick zuwarf: „Sicher nicht im hellsten Tageslicht. Aber in einer finsteren Höhle? Oder an einem verregneten Tag in einem dichten Wald? Vor allem wenn der Ghul sich alte Menschenkleider überworfen hatte?“ „Das letzte haben Sie sich doch gerade ausgedacht“, lachte ein Mädchen auf, worauf Petrus entschieden den Kopf schüttelte: „Nein, genau dies war mir widerfahren. Ich merkte zu spät, dass die Augen dieses komischen Mannes zu groß waren.“ „Wenn Sie aber ihn hätten etwas besser sehen können, dann hätte diese angeborene Furcht sie gewarnt?“, fragte das Fuchsmädchen weiter, gebannt von Faszination und Furcht im Tanz. „Eben jene Furcht, die unsere Vorfahren über Generationen hinweg verspürt haben müssen angesichts unserer nächsten Verwandten, unseren nächsten Rivalen“, nickte Petrus. „Und weil diese unseren Vorfahren beim Überleben half, hat sich diese Furcht tief in unserem Blut verwurzelt.“ „Und wir brauchen diese Furcht, weil die Ghuls als unsere nächsten Verwandten so ähnlich aussehen …“, begriff das Fuchsmädchen und von dem Rest der Klasse kam zustimmendes Gemurmel.
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Was Petrus erleichterte, denn so musste er nicht den Hauptgrund nennen, warum sich die Wissenschaft so sicher war über diese nahe Verwandtschaft: die Existenz von Halbghuls. Hybride, die wie Maultiere und Maulesel unfruchtbar waren. Deren Existieren einen ganzen Rattenschwanz an unguten Implikationen hinter sich herzog, die selbst Petrus, der es mit Wissenschaft ernst und genau nahm, nicht vor einer Grundschulklasse ausrollen wollte.

Der nächste Teil der Geschichte wird in zwei Wochen, am 20. Juni 2025, veröffentlicht.

Admin - 17:24:17 @ Naturkunde, Erzählung | Kommentar hinzufügen