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Blogpost aus Mora


2024-01-06

Epios und Artemis - Teil 6

1
Geduldig hörte Epios ihre, in eine Tirade abgleitende Klage, an und drückte anschließend sein Mitgefühl aus. Doch dann legte er ihr barsch dar, dass sie in mancher Hinsicht nicht besser war als die Götter und Sterblichen, die sie so sehr plagten. Denn sie war eine zornige Frau. Ironischerweise wurde Artemis bei diesen Worten wütend und verlangte zu wissen, wie er so etwas sagen konnte. Worauf er sie daran erinnerte, was sie ihm einst über ihre Freundin Kallisto erzählt hatte: Wie die Nymphe von Artemis’ Vater Zeus mit einem Trug hinters Licht geführt und anschließend mit Gewalt genommen worden war. Zu Recht verfluchte Artemis ihren eignen Vater dafür, was er Kallisto angetan. Doch Epios klagte sie dafür an, was sie getan hatte, als sie herausfand, dass ihre Freundin geschändet und geschwängert wurde: Artemis verstieß sie und verwandelte sie auch noch in eine Bärin. Die Göttin der Jagd verteidigte sich damit, dass Kallisto ihr heiliges Gelöbnis der Keuschheit gebrochen hatte und damit das Privileg verwirkte, an Artemis’ Seite zu sein. Doch inwiefern war es Kallistos Schuld, wenn man ihr die Jungfraulichkeit mit Gewalt genommen hatte, wollte der Wolf wissen. Und warum war für Artemis überhaupt der Verlust der Jungfraulichkeit das Wichtigste an der ganzen Sache? Scherte sie sich überhaupt nicht für den unermesslichen Schmerz, den Kallisto erlitten haben muss?
2
Artemis beantwortete dies nicht, sondern gab nur Ausflüchte. Dies weckte Epios’ Wut und er setzte nach, indem er fragte, was denn die vierzehn Kinder der Seherin Manto getan hätten, damit sie verdient hatten, wegen eines albernen Streites über Opfergaben getötet zu werden? Und da war auch noch die Sache mit Aktaion, als sie bereit gewesen war, einem Mann, der sie versehentlich beim Baden erwischte, zu töten. Artemis erwiderte, dass der junge Halbgott etwas Schändliches versucht hätte, wenn sie ihn nicht bestraft hätte. Was Epios erzürnte, denn auch wenn Aktaion etwas zu offen gegenüber dem schönen Geschlecht war, er war kein Schänder. Der Wolf, dessen Fell sich schwärzte, musste sich wundern, wie viele der Männer, von denen Artemis behauptete, sich erwehren zu müssen, nicht einfach Opfer ihres blinden Zornes war. Daraufhin bekam er von ihr den heiligen Bogen über die Schnauze geschlagen und anschließend rannte Artemis mit rollenden Tränen auf den Wangen in den Wald.
3
Für eines kleines Äon schien es, als wären ihre Wege damit endgültig auseinandergebrochen. Doch diesmal sollte es Epios sein, der sie wieder zusammenführen wollte. Allerdings wusste er nicht, wo er sie finden konnte, weshalb er die Lichtung mit der Grotte aufsuchte und vor dem Eingang wartete. Und wartete. Die Jahreszeiten zogen durch das Land und er merkte nur, dass ab und zu eine Nymphe zwischen den Bäumen linste, aber Abstand hielt. Dies tat auch der Wolf, denn er spürte, dass er Artemis den ersten Schritt erlauben musste, wo er nun seine Bereitschaft zum Reden demonstrierte. Endlich zeigte sich Artemis, flankiert von ängstlichen Nymphen, und trat zu ihm. Nur um sich dann die Nase zu halten, denn der Wolf hatte all die Jahren sich keine Zeit nehmen können für ein Bad. Deshalb wies sie den Wolf an, herunter in die Grotte zu kommen, was die Nymphen empörte, denn sie wollte nicht ein Bad mit diesem männlichen Wesen zu teilen. Artemis erwiderte nur, dass Epios ein Wolf und kein Mann war. Zudem war es der Göttin der Jagd nur Recht, denn sie beabsichtige sowieso, allein mit dem Wolf zu sein. Ein plötzliches Knurren Epios’ Magen verriet, dass er all die Zeit auch nicht gegessen hatte, weshalb sie die Nymphen anwies, auszuziehen und etwas für den Wolf zu erlegen. Etwas viel, korrigierte Artemis mit Blick auf den gewaltigen Leib des Wolfes.
4
Die Nymphen taten wie geheißen, wenn auch wenig begeistert, während Artemis den Wolf herab in die Grotte führte, wo er, nach ihrer widerwilligen Erlaubnis, zuallererst seinen mörderischen Durst stillte. Dann aber sahen sie sich wieder an, unschlüssig und nicht beabsichtigend, sich ein Bad zu gönnen. Vor allem Artemis musterte etwas nervös Epios’ Fell, welches zwar nicht mehr schwarz, aber dafür uneindeutig grau war. Letztendlich gab sich der Wolf einen Ruck und er überraschte Artemis mit einer Entschuldigung: Es war falsch gewesen in seiner Wut infrage zu stellen, dass lüsterne Männer und Götter ihr nachjagten. Doch er beharrte auf seiner Ermahnung, dass sie ihre gerechtfertigte Wut nicht gegen die Unschuldigen oder jene, die ihr ein mildes Unrecht zufügten, richten sollte. Nun überraschte Artemis ihn, denn sie stimmte ihm zu. Und wollte dann mehr sagen, doch ihr versagte die Stimme. Um es ihr zu vereinfachen, schlug Epios vor, dass sie sich nun vielleicht doch ein Bad gönnen sollten.
5
Das warme und milde Wasser der heiligen Quellen half Artemis genug zur Ruhe zu kommen, um den Wolf darzulegen, was genau damals mit Kallisto passiert war: Anfangs hatte die Göttin gemerkt, dass die sonst fröhliche Nymphe stiller und zurückgezogener wurde. Zudem hielt sie sich von den gemeinsamen Bädern fern, wofür der Grund bald sehr offensichtlich wurde. Denn zu ihrer aller Schreck begannen eines Tages bei Kallisto die Wehen und sie gebar einen Sohn inmitten einer von Artemis’ heiligen Haine. Natürlich forderte sie Rechenschaft von der Nymphe, da sie offensichtlich ihr Gelöbnis der Keuschheit gebrochen hatte. Als aber Kallisto ihr erzählte, wie Zeus die Nymphe zuerst mit Artemis eigenen Antlitz überlistete und dann schändete, gefror der Göttin der Jagd das Herz. Artemis gestand dem Wolf, dass ihr allererstes Gefühl das brennenden Verlagen gewesen war, ihrem abscheulichen Vater die Saatsäcke abzureißen. Doch auch wenn sie die ungezähmte Natur verkörperte, so war sie dem Göttervater, der über den alles überragenden Himmel gebot, unterlegen. Somit richtete sich in ihrer göttlichen Ohnmacht den Zorn gegen das Opfer, welches sie verstieß und in eine Bärin verwandelte.
6
Hier musste Epios sie unterbrechen, denn er verstand immer noch nicht, warum die Jungfräulichkeit so verdammt wichtig war. Artemis erklärte ihm, dass ihre Jungfräulichkeit und die ihrer nächsten Anhängerinnen ein Symbol ihrer Unabhängigkeit zu den männlichen Göttern sowie ihrer spirituellen Reinheit darstellte. Der Wolf wunderte sich dann aber, ob dies denn für sie wirklich wichtiger war als das Wohlergehen ihrer Freundin. Unter Tränen verneinte Artemis dies und sie fragte verzweifelt den Wolf, was aber sie tun soll. Sie kann schließlich nicht den Verstoß, den Verrat an ihrer Freundin zurücknehmen. Nicht einmal eine Göttin konnte einen Faden des Schicksals entwirren, der bereits vollends gesponnen worden war. Der Wolf musste ihr zustimmen: Sie konnte es nicht ungeschehen machen. So wie er vieles in seinem Leben nicht ungeschehen machen konnte. Dieses Selbstbezug verwunderte Artemis, denn bislang hatte sie den Eindruck, dass Epios nicht wirklich viel Schuld auf sich geladen hatte.
7
In dem Moment kamen die Nymphen zurück und präsentierten dem Wolf das geschnittene Fleisch mehrere frisch erlegten Hirsche, die er dankbar fraß, wenn auch eher lustlos, denn nun war er es, der seine Verfehlungen darlegte: Er erinnerte Artemis daran, dass er, nachdem er aus Asgard geflohen war, anschließend von den Menschen gejagt wurde. Als Einwand brachte die Göttin der Jagd aber, dass dies man doch als Notwehr werten könnte. Und der Wolf stimmte zu, das würde durchaus auf die Jagdtruppen zutreffen. Aber nicht auf die Jäger, die seinem Anblick flohen und damit ihm nichts taten und dann trotzdem von ihn verschlungen wurde. Oder die Bauern auf den Feldern, die er überfiel, wenn er hungrig war, obwohl das Wild der weiten nordischen Wälder für ihn reichte. Und manchmal verschlang er Menschen, selbst wenn er satt war, um seinen Rachedurst wegen dem Unrecht der Götter Asgard zu stillen, an welche ihn die Pfeile erinnerten, die damals noch in ihm steckten. Er bezweifelte seinen Zorn damals nicht und sah sich gerechtfertigt, ihn blind walten zu lassen. Erst als er von Aktaion aufgenommen und er unter Menschen zu leben begann, begann er seine Untaten zu begreifen. Aber auch nur langsam, denn er tat immer noch rücksichtlose Dinge.
8
Ein Geschehnis, welches sich bei Epios eingeprägt hatte, war jenes mit dem Pferdezüchter. Zwar hatte der Wolf damals schon genug Weitsicht gehabt, um zu verstehen, dass er nicht mehr die Menschen fressen sollte, wenn er unter ihnen leben wollte. Doch er dachte leider nicht dasselbe über ihr Nutzvieh, weshalb er einmal, als er hungrig wurde, ein preisgekröntes Pferd fraß. Der Mann war nicht einmal wütend, sondern einfach nur traurig und verzweifelt. Epios verstand nicht, was denn das Problem war, bis Aktaion ihm gehörig ins Gewissen redete. Als ihm endlich die Schwere seines Vergehens dämmerte, versuchte er sich an Wiedergutmachung. Artemis wunderte sich, wie diese denn ausgesehen haben könnte. Indem Epios versuchte, ein ebenso prächtiges Ross zu züchten. Trotz der Schwere des Gespräches musste die Göttin lachen, denn die Vorstellung von einem Wolf, der sich an Pferdezucht versuchte, war einfach zu absurd. Und Epios gestand, mit seinen Reißzähnen grinsend, dass es auch alles andere als einfach gewesen war. Er brauchte beinahe das ganze Leben des Mannes, um einen würdigen Ersatz heranzuziehen. Letztendlich war es das aber wert gewesen, denn der Mann war dankbar und vergab dem Wolf kurz vor seinem Tod. Seine Nachfahren konnten zudem diese Pferderasse weiterzüchten, was ihren Wohlstand über Generationen sicherte. Doch auch wenn der Wolf letztendlich guttat, so machte dies nicht den Schmerz ungeschehen, der einst zugefügt wurde. Dasselbe galt auch für die vielen Leben, die er unrechtmäßig verschlungen hatte. Auch wenn man also seine Vergehen nicht aus dem Gewebe des Schicksals herausreißen konnte, so sollte dies einen aber nicht daran hindern, zumindest zu versuchen, Wiedergutmachung zu leisten und den angerichteten Schmerz zu mindern.

Der nächste Teil der Geschichte wird schon morgen, am 7. Januar 2024, veröffentlicht.

Admin - 13:24:21 @ Mythen, nordische Kultur, hellenische Kultur | Kommentar hinzufügen