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Blogpost aus Mora


2024-03-15

Das erfrorene Mädchen - Teil 4

1
Die langsam ins Vergebliche abzurutschen drohende Debatte wurde zertrümmert, als ein furchtbarer Drachenschrei die Weiße Weite erschütterte und das Mark aller Toten noch etwas mehr gefrieren ließ. Sogleich wurde das wenige Licht, welches der ewig trübe Himmel spendete, von dem Schatten jener gewaltigen Schwingen erwürgt, die den Drachen Nidhöggr von den Wurzeln des Weltenbaumes herab in die Weiße Weite trugen, auf dass er sich an den Leibern der heimatlosen Toten laben konnte. Stets hatte der Drache Hel ignoriert und sie hatte nur teilnahmslos zugesehen, wenn er wieder eine Seele verschluckte, sie zu einem grausamen Dasein in seinem Bauch verdammend, denn selbst die Magensäure eines Monstrums konnte eine Seele nicht zerstören. Doch diesmal würde Hel den Drachen nicht gewähren lassen und sie stellte sich ihm entgegen.
2
Zuerst überraschte es den Drachen, doch anschließend lachte er nur, abfällig das junge, halbtote Mädchen musternd, welche sich zwischen ihn und die Gefolgschaft stellte, ihm ein Festmahl verwehrend. Allerdings sollte er, als er versuchte, sie mit einem simplen Biss zu verschlingen, feststellen, dass Hel zwar keinen gewaltigen Körper hatte wie ihre beiden Drillingsbrüder, jedoch ihr vom Blut des Tricksergottes nicht die Kraft eines Riesen verwehrt worden war. Mit einer Flinkheit, die schwer für das menschliche Auge zu erfassen war, wich sie dem Biss aus und glitt unter seinen Kopf, ihre winzige Knochenfaust in sein riesiges Kinn rammend, so einen göttlich gewaltigen Kinnhaken entfesselnd. Nidhöggr wurde über ein gutes Stück der Endlosigkeit der Weißen Weite geschleudert und Hel folgte ihm, fest entschlossen, ihn zu vertreiben. Somit begann ein langer Kampf zwischen dem Drachen und dem jungen Mädchen. Welchem sich anschließend noch ein weiterer, sehr überraschender Teilnehmer anschloss. Denn als Nidhöggr versuchte, Hel mit einem Klauenschlag zu zerschmettern, hob sie ihre Hände. Aber nicht, um zu blocken, sondern um dem Eis und Schnee vor sich zu befehlen sich als eine Mauer vor ihr schützend aufzubauen. Eine Handlung, die den Drachen so sehr überraschte, dass er zuerst gar nicht versuchte, seine Krallen aus dem Eis zu zerren, sondern stattdessen Hel verdattert anstarrte. Deren einzelnes Auge das gleiche tat, denn sie selbst hatte nicht gewusst, dass sie dies tun konnte. Sie hatte sich allein von einem Gefühl leiten lassen.
3
Es erwies sich, dass selbst die Weiße Weite die Gleichgültigkeit verachtete, aber gezwungen war, jene zu vereinnahmen, weil die ziellosen Toten sie in sie trugen. Denn die Weiße Weite war das Land der Toten und als diese Toten begannen, zu Hel aufzublicken, sie als eine Herrin anzusehen, so tat es auch die Weiße Weite und folgte ihr. Eis und Schnee, Äonen lang regungslos gewesen, erhoben sich und formten sich zu stechenden Speeren, erdrückenden Schlingen und zurückhaltendem Gemäuer, unermüdlich den Drachen in die Enge treibend. Welcher zwar zu groß und zu wild war, um sich gefangen nehmen zu lassen, jedoch dafür immer hungriger wurde. Hel mit der Weißen Weite als ihrer Waffe gewährte ihm aber keine einzelne Gelegenheit, jemanden zu verschlingen. So endete der Kampf ziemlich banal, als der Drachen sich in den Schnee warf, seinen laut knurrenden Magen beklagend. Hel wusste, dass sie trotz ihrer neu gewonnenen Kräfte nicht ein urzeitliches Wesen wie einen Drachen erledigen konnte. Oder sollte, denn sein Tod, auch wenn er ein böses Monstrum war, würde das Gleichgewicht der Welten stören. Deshalb improvisierte sie und schlug dem Drachen einen Handel vor: Er würde damit aufhören, die rastlosen Seelen zu jagen und Hel würde dafür seinen Hunger mit dem Fleisch der schlimmsten Missetäter stillen. Nidhöggr ging auf ihren Vorschlag ein und würgte als Zeichen des guten Willens alle rastlosen Toten hoch, die er bislang verschlungen hatte.
4
Mit der gebannten Gefahr und die Weiße Weite nun als ihre Domäne angenommen, konnten Hel und ihre Gefolgschaft endlich ihre erträumte Stadt errichten, direkt geformt aus der Weißen Weite selbst. Der Schnee verdichtete sich zu einem soliden Fundament, auf welchem sich das Eis zu hohen Gemäuern auftürmte, zu im schwachen Licht des grauen Himmels glitzernden Türmen. Die endlich Rast finden könnenden Toten benannten die kalte, aber schöne Stadt nach ihrer Herrin: Helheim. Als eine Stadt inmitten endlosen Frostes konnte Helheim zwar nicht viel bieten, aber dies erwies sich auch als nicht notwendig. Denn die Toten mussten nichts essen und trinken und benötigten keinen Schlaf. Alles, wonach sie sich sehnten, war Ruhe und Geborgenheit und diese gewährten die blauen Eismauern ihrer Behausungen. Rasch begannen die Toten, diesen Frieden mit Gesprächen über ihr vergangenes Leben zu füllen. Sie teilten die schönsten Momente und ertrugen gemeinsam die Scham und den Schmerz gefällter Entscheidungen. So manchem gelang es so, das Ende seiner Qualen zu finden, die ihn vom Leben in den Tod hinein gefolgt waren. Dabei half auch die Weiße Weite, die sich in den Augen der Toten gewandelt hatte. Der nie enden wollende Schnee, für den ziellosen Fuß eine Qual, erwies sich für die nach Antworten suchenden Blicke als ein Balsam, der in einem eine innere Ruhe ausbreitete. Die stille Beständigkeit gab all jenen Gedanken Luft zum Atmen, die im lauten Voranrollen des Lebens erstickt wurden.
5
Während die Toten endlich ein ruhiges Nachleben genießen konnten, war Hel, die langsam zur Frau hereinreifte, beschäftigt damit, ihr Wort gegenüber Nifhöggr einzuhalten. Somit organisierte sie Gruppen, die hinaus in die Weiße Weite zogen und all jene einfingen, deren Leben ersichtlich mit einer Hinrichtung geendet hatten. Ursprünglich wollte sie die Verbrecher dem Drachen sogleich überlassen, doch als sie auf die erste Gruppe an traurigen Gestalten im Hof ihrer Eisfestung herabblickte, schwankte sie in ihrem Entschluss. Sie wusste nichts über die vermeintlichen Verbrecher. Wer sie waren und was sie getan hatten. Konnte und sollte sie wirklich diese einfach dem Drachen zum Fraß vorwarfen? So wie die Götter Asgards sie als kleines Mädchen in die Weiße Weite geworfen hatten, weil sie angeblich eines Tages für Ragnarök mitverantwortlich sein würde? Und wenn sie dem Urteil von Göttern nicht uneingeschränkt vertrauen konnte, wie konnte sie einen sterblichen Richtspruch ernst nehmen? Nein, sie scherte sich zu sehr um das Schicksal der verlorenen Seelen, als dass sie blind auch nur eine in die grässliche Ewigkeit im Magen Nifhöggr schicken konnte.
6
Somit entschied sie, dass der einzig richtige Pfad von hier aus jener war, dass über die Toten erneut gerichtet werden musste. Doch sie konnte dies nicht allein tun, denn auch wenn sie so einiges über die Sterblichen und ihre Welt Midgard wusste, so spürte Hel auch sogleich, dass sie über vieles ignorant war. Deshalb rief sie die weisesten Seelen in ihrer Stadt zu sich, unter ihnen auch der alte Sven, damit sie als Rat ihr beim Fällen der Gerichtssprüche aushalfen. Dies erwies sich als die richtige Entscheidung, dann rasch bemerkte Hel, dass nicht jeder Tote im Leben das gewesen war, wie er augenscheinlich im Nachleben wirkte. Als die Tochter des Tricksergottes wusste sie Lug und Trug zu durchschauen, weshalb den verlorenen Seelen nichts anderes verblieb, letztendlich nichts anderes als die Wahrheit darzulegen, auch wenn viele natürlich alles Mögliche versuchten, um sie zu verbergen. Ausflüchte darüber, warum das Opfer sterben musste oder es verdient hatte. Beteuerungen, dass man unschuldig sei. Oder simples Infragenstellen von Hels Autorität. Im Fall des Letzteren musste die Göttin aber nur den Aufmüpfigen am Hals packen, ihn zu dem Balkon ihres Eisspaltes schweifen und, während sie sie zappelnd über den Rand hielt, rufend fragen, wer dafür war, dass sie über ihn richtete. Worauf die ganze Stadt sie hochleben ließ.

Der nächste Teil der Geschichte wird in zwei Wochen, am 29. März 2024, veröffentlicht.

Admin - 10:56:47 @ Mythen, nordische Kultur | Kommentar hinzufügen