2024-03-29
1
Doch nicht selten erwies sich einer der vermeintlichen Verbrecher tatsächlich als das Opfer eines unrechten Richtspruches. Und so mancher hatte nicht aus so niederen Gründen gehandelt, wie es zuerst erschien. Einmal führte man vor Hel einen Mann, dessen Verdorbenheit eindeutig wirkte. Aus seinem Rücken ragten knöcherne Flügel, seine Hinrichtung durch das Formen eines Blutadlers bezeugend. Was allein schon auf die Schändlichkeit seiner Tat hinwies, denn der Rat hatte Hel gelehrt, dass diese Art des Todes nur jenen erteilt wurde, die sich die schlimmste Schuld aufgeladen hatte. Im Fall dieses Mannes stammte jene Schuld von der grausamen Ermordung einer jungen Frau aus adligen Kreisen. Jene Adlige sagte als Zeuge über ihren eigenen Tod aus und berichtete Furchtbares: Es war kein simples Ermorden gewesen, denn der Mann hatte sie zuvor stundenlang gefoltert. Und selbst als er ihr letztendlich die Kehle durchschnitt, endete damit nicht ihre Qual, denn auch im Tod verfolgte er sie weiterhin. Wann immer er sie die Finger bekam, folterte er sie weiter, sie schlagend, und sie mit seinen eigenen Gedärmen peitschend. Als Hel den Mann fragte, war er zu seiner Verteidigung vorzubringen hatte, leugnete er es nicht. Doch als nach dem Warum gefragt wurde, offenbarte er, dass er es tat, um seinen Sohn zu rächen. Sein Sohn war ein Diener im Gefolge des Vaters der jungen Adligen gewesen und war von dieser über lange Zeit gequält worden. Keine Folter, aber immer wieder, wenn niemand sah, ein Schlag, ein Stich, eine Herabwürdigung. Da sie eine Hochgestellte in der Gemeinschaft war, schenkte niemanden dem Sohn Glauben, sodass dieser den einzigen Ausweg im Freitod sah.
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Dies hörend, stellte Hel die Adlige zur Rede. Wie viele andere Schuldige versuchte diese zuerst sich herauszureden: Ja, es stimmte, dass sie den Sohn geschlagen hatte. Aber nur ein paar Mal und nur, weil der Sohn ein so unzuverlässiger Diener gewesen war. Doch unter Hels knöchernem Blick zerfloss die Lüge und die Adlige gestand, dass sie aus purer Freude am Schmerz anderer nicht nur den Sohn, sondern auch andere Diener gequält hatte. Und dass sie damit nicht nur den Sohn auf dem Gewissen hatte. Schamlos hatte sie den Einfluss ihrer Familie ausgenutzt, um mit Taten davonzukommen, wegen derer gewöhnliche Leute in Schande aus der Gemeinschaft verstoßen worden wären. Der Rat musste nicht lange überlegen, um Hel zu raten, die Adlige Nifhöggr zum Fraß vorzuwerfen. Schwieriger wurde es hingegen, als man wieder auf den Mann zu sprechen kam. So mancher im Rat wollte dem Drachen eine doppelte Mahlzeit spendieren, denn auch wenn seine Motivation nachvollziehbar war, so waren die Taten des Mannes sowohl vor als auch nach dem Tode unverzeihlich. Andere hingegen meinten, man könnte ihn nicht das schlimmste Schicksal auferlegen, denn die Toten sollten nicht allein anhand ihrer Taten, sondern auch anhand ihrer Gründe verurteilt werden. Einige wenige meinten sogar, man sollte den Mann einfach weiterziehen lassen, doch dagegen protestierte der Rest des Rates vereint. Genau dies ließ Hel, die stumm, aber aufmerksam der erhitzten Debatte lauschte, erkennen, dass der Rat sich einiger war, als das oberflächliche Hören es einen glauben lassen konnten. Die meisten bemitleideten den Mann, konnten aber seine Taten nicht gutheißen. Der Streit wurde von der Frage geboren, welche Strafe hier angemessen war.
3
Endlich ergriff Hel selbst das Wort und teilte dem Mann mit, dass er kein guter Mensch gewesen war und es auch nicht im Tode sei. Sein Schmerz und sein Verlangen nach Rache hatten ihn zu einem ebenso scheußlichen Menschen verdreht wie die Adlige. Dies erzürnte den Mann und er verlangte von Hel zu wissen, was er stattdessen hätte tun sollen. Im Leben war ihm Unrecht getan worden und hier auf der Weißen Weite scherte sich niemand um Wiedergutmachung. Allein in seinen Händen lag es, das Leid und den Tod seines Sohnes zu rächen. Was sonst hätte er tun sollen? Hels Antwort klang simpel: Er hätte nach seinem Sohn suchen können, anstatt sinnlos Gleiches mit Gleichem zu vergelten. Daraufhin verstummte der Mann, doch Hel ließ nicht ab, denn sie spürte, dass da noch etwas war. Letztendlich gestand der Mann seine eigene Schuld ein: Er hatte von der Misshandlung seines Sohnes gewusst. Dieser selbst hatte ihm davon erzählt, doch als sein Vatter hatte der Mann nur gelacht und seinen Sohn getadelt. Dass er nicht so verweichlicht sein soll. Ein wahrer Mann hält so etwas, ohne mit den Wimpern zu zucken, aus. Außerdem konnte eine Frau, jemand von dem schwächeren Geschlecht, einen Mann nichts Ernsthaftes antun, womit diese „Schläge“ nicht mehr als Sticheleien sein konnten. Daraufhin hatte der Sohn davon nicht mehr gesprochen und der Vater dachte, damit wäre die Angelegenheit erledigt. Bis sich dann der Sohn das Leben nahm und der Vater seinen entblößten Leib sah. All die Narben und blauen Flecken zeugten davon, dass sein Sohn mehr als nur „Sticheleien“ oder bloße Schläge erlitten hatte. Und es über sich ergehen lassen musste, weil er niemanden hatte, dem er sich anvertrauen konnten, nicht einmal seinem eigenen Vater. Als den Mann letztendlich der Strohtod ereilte, wuchs diese Schuld in ihm, genährt von der Stille der Weißen Weite. Die Vorstellung, seinen Sohn zu finden und diesem gegenüberzutreten, nachdem er ihn im Stich gelassen hatte.
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Anstatt sich also seiner Schuld zu stellen, entschied er sich, sich dem Zorn hinzugeben und sich einer endlosen Jagd zu verschreiben, die ihn vielleicht kurzfristige Befriedigung gab, aber keinen endgültigen Abschluss. So fasste Hel die Situation des Mannes zusammen und weder er noch der Rat hatten etwas einzuwenden. Somit fällte sie ihr Urteil: Der Mann würde aus Helheim verbannt werden. Man würde ihn erst Einlass gewähren, wenn er seinen Sohn an der Seite hatte. Was nicht einfach werden würde, denn der Sohn musste nicht nur in der Weißen Weite gefunden werden. Denn sicher war er einer der Vereisten. Hel hatte inzwischen herausgefunden, dass jene Toten, die jegliche Hoffnung und mit ihr jeglichen Drang nach Voranschreiten, Opfer des Eises der Weißen Weite wurden. Sie waren nicht für immer verloren, doch es war schwer, ihr Feuer zwischen all dem Eis und Schnee wieder zu entfachen. Der Mann nahm die Strafe mit sachter Dankbarkeit an und zog aus, hinaus auf die Weiße Weite.
5
Unermüdlich über die Toten richtend, stabilisierte Hel ihrer Herrschaft über die Weiße Weite und schuf damit für sich selbst ein zielgerichtetes Dasein. Als ein komisches Männchen die Eisstadt von der Ferne bewunderte, lachte dieses, denn Hel war von ihren Geschwistern immer schon die Klügste gewesen. Damit konnte er das sanfte Führen dieses Kindes sein lassen, denn es kam allein gut zu recht. Nur den Rand der Stadt allein betrat er deshalb und ließ einen Sack zurück, der rasch von den Toten gefunden und geöffnet wurde. Und sie zum tiefsten erschrak, denn in ihm steckten blutige Leichenteile. Für lebendige Sterbliche wäre dieser Anblick auch so schon furchtbar gewesen, doch für die Toten wurde der Schreck noch von zwei weiteren Dingen gesteigert: Zu einem sahen diese zum ersten Mal eine zerstückelte Leiche auf der Weiße Weite. Zwar starben einige durchaus dadurch, dass ihre Körper im Leben zerrissen wurden. Doch im Tod fügten sich die Leiber wieder zusammen und wenn man auch die gerissenen Wunden sah und diese stetig bluteten, so konnten diese Toten sich zumindest frei bewegen. Zum anderen regten sich diese Leichenteile noch: Die beiden Herzen schlugen unnachgiebig, voneinander getrennte Augen blinzelten verzweifelt und die Lippen formten zwecklos Laute des Schmerzes.
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Als man die Leichenteile vor Hel brachte, überfiel diese eine tiefe Traurigkeit und ohne zu zögern oder lange nachzudenken, begann sie, die beide Leiber zusammenzufügen, Eis und Schnee als Bindemittel nutzend. Zusammengefügt starrte sie die beiden zusammengesetzten Männer an. Und umarmte sie dann mit Tränen in den Augen, denn es waren ihre beiden älteren Brüder Narfi und Ali gewesen, die von den Göttern getötet wurden, um aus ihren Gedärmen Fesseln für ihres Vaters Gefangenschaft zu schmieden. Und mit ihren Brüdern kamen alte, gute Erinnerungen zurück und von nun an hörten die Toten oftmals ihr Lachen aus der Festung kommen.
Der nächste Teil der Geschichte wird in zwei Wochen, am 12. April 2024, veröffentlicht.
Admin - 02:00:27 @ Mythen, nordische Kultur | Kommentar hinzufügen