o                          
 
Neues aus Mora





 

Blogpost aus Mora


2024-04-12

Das erfrorene Mädchen - Teil 6

1
Ihre beide älteren Brüder sollten aber nicht die einzigen Personen die aus ihrem alten, beinahe ganz vergessenen Leben zurückkehrten, sein. Denn eine Äone später entdeckten wagemutige Tote weit weg von Heimdal in der Weißen Weite ein warmes Licht. Als dessen Quelle machten sie einen wunderschönen Mann aus, eingefrorenen in Ewigem Eis. Als man Hel davon berichtete und sie selbst das Licht sah, eilte sie sofort hinaus auf die Weiße Weite, denn sie erinnerte sich an dieses Licht. Es war das Licht des barmherzigen Balder, des einzigen Gottes in Asgard, der jemals Hel etwas anderes entgegengebracht hatte als Hass oder Furcht. Als sie noch in der Kammer unter Asgard gefangen gewesen war, kam er regelmäßig zu ihr herunter und leistete ihr Gesellschaft. Er war im wahrsten Sinn des Wortes der einzige Lichtblick in ihrem Leben gewesen. Nun dieses Licht schwach flackern sehend riss Hel die Seele ein und sie befahl, dass man den toten Gott aus dem Eis breche. Ein langes Unterfangen, denn die Weiße Weite, sonst eigentlich sehr kooperativ gegenüber Hel, wollte den schönen Gott nicht hergeben, wie ein eifersüchtiger Liebhaber. Letztendlich übertraf das unermüdliche Schlagen der von toten Händen geführten Spitzhaken aber das ewige Eis und der bewusstlose Balder wurde nach Heilheim überbracht. Als er letztendlich erwachte und Hels ansichtig wurde, lächelte er, glücklich darüber, dass es ihr gut ergangen war, seit er sie mit in die Weiße Weite gerissen hatte.
2
Der perplexen Hel erklärte er daraufhin so einiges: Die Götter Asgard glaubten zu wissen, dass sie die Toten unterwerfen könnte. Schließlich verkündete die Prophezeiung von Ragnarök dies und zudem hatte jeder in Walhall gespürt, dass Hel im Leben und im Tod stand und damit über eine Urmacht verfügte, die für sie fremd und unbegreiflich war. Tatsächlich hielt man sie für die Gefährlichste unter den Drillingen, weshalb man sie in der Kammer isolierte, damit sie auf keinen Fall  in die Weiße Weite entfliehen konnte. Balder gestand seine eigene Schande ein, denn er selbst glaubte dies, und auch wenn er sich oftmals erfolglos vor seinem Vater Odin dafür aussprach, Hel aus der Kammer herauszulassen und sie in der Runde der Götter willkommen zu heißen, so sah auch er die Notwendigkeit, sie als eine Gefangene zu behandeln. Erst als er durch eine List Lokis trotz seiner Unverwundbarkeit starb, beschloss er, Hel zu befreien. Diese verstand nicht, warum Balder es getan hatte. Warum hatte er seine Ansicht in einem solch schrecklichen Moment geändert? Vor allem, wenn es ihr Vater gewesen war, der ihm dieses Leid zufügte? Und wie hatte er es überhaupt angestellt? Die Antwort auf die erste Frage war simpel: Als er im Sterben lag, musste Balder an Hel denken. Genauer gesagt anschließend, denn sein erster letzter Gedanke war seiner Frau Nanna gewidmet gewesen. So sehr es ihn aber auch betrübte, seine Liebste zurückzulassen, so musste er auch an das arme Mädchen denken, dass allein im Kerker schmachtete. Wie er aber Hel befreit hatte, wusste er selbst nicht so genau. Es geschah rein instinktiv und er konnte es allein nur so umschreiben, dass er sie mit sich riss, als er in die Weiße Weite fiel.
3
Hel hieß Balder willkommen in Helheim und dieser nutzte ihre Gastfreundlichkeit, um auf den frostigen Straßen lustzuwandeln und mit den Toten zu plaudern. Zudem beteiligte er sich an den Rechtssitzungen und half Hel bei einigen besonders schwierigen Urteilen mit seiner weisen Barmherzigkeit. So gewann er die Zuneigung der Toten für sich und als man seine Frau Nanna gefunden und sie mit ihm vereint hatte, gönnte dies ihm jeder aus ganzer Seele.
4
Die Kunde über seinen Aufenthalt in Helheim schaffte, was nur wenigen Wesen gelingen konnte: Sie entwich der Weiße Weite und kam bis nach Asgard, wo der Tod des barmherzigen Gottes ein gähnendes Loch hinterlassen hatte. Odin entsandte seinen Sohn Hermod in die Weiße Weite, auf das dieser die Rückkehr Balders von Hel erhandelte. Doch Hel selbst wollte die Gesellschaft Balders nicht missen oder sie den Toten vorenthalten. Niemals würde sie außerdem den Göttern Asgards irgendeinen Gefallen tun, denn sicher würde diese sie erneut einsperren, wenn sie die Gelegenheit bekämen. Hätten Balder und Nanna sie nicht aus ganzer Seele darum gebeten, ihnen etwas Zeit mit Hermod zu gewähren, auf dass sie ihm Botschaften für Asgard mitgeben könnten, sie hätte den Gott über die ganze endlose Weiße Weite hinweg fortgejagt.
5
Während Hermod nun etwas Verbleib in Helheim gestattet wurde, bekam Hel einen sehr aufwühlenden Besuch: Ein komisches Männchen, welches sie sofort als ihren Vater Loki erkannte. Zuerst umarmte ihn die liebende Tochter, welche von schönen Erinnerungen heimgesucht nach seiner Väterlichkeit sich sehnte. Dann aber schlug ihn die zornige Tochter nieder und klagte ihn mit Schlägen an. Warum hatte er nichts getan, als die Arsen ihren einen Bruder anketteten, den anderen ins Meer warfen und sie in einer finsteren Kammer einsperrten? Warum hatte er nie nach ihr gesucht und sie stattdessen durch die Weiße Weite irren lassen? Und warum hatte er Balder getötet? Doch ihr Vater lachte nur, als er sich die am meisten schmerzenden Stellen haltend erhob. Sie sei immer das klügste seiner Kindern gewesen, so sollte sie sich doch denken können, warum er dies alles getan hatte. Durchaus behielt er Recht. Weshalb Hel ihn nur frostig anstarrte, anstatt sich auf seine Tricksereien einzulassen. Sie erlangte, was den meisten nicht vergönnt war: die Wahrheit aus dem Mund des Tricksergottes. Oder zumindest etwas, was jener ähnlich genug klang. Loki legte seiner Tochter dar, dass es zur Kunst des Tricksens auch gehörte, einfach einmal stillzuhalten. Denn nicht selten tricksten Sterbliche und Götter sich selbst aus, vor allem wenn sie versuchten, einen Tricksergott zu schlagen. Deshalb hatte Loki nichts getan, als man seine Drillingskinder verbannte, ankettete und einsperrte. Denn durch ihr Handeln brachten die Arsen die Drei genau in die Position, in der sie sein mussten, um sich gegen die Götter erheben zu können, so wie es prophezeit wurde. Hätten die Götter nicht Hiti ins Meer geworfen, hätte er nicht zu der gewaltigen Schlange heranwachsen können, die die ganze Welt erwürgen könnte. Wenn man seinen Bruder Epios nicht angekettet hätte, wäre er nicht zu so einem gewaltigen Wolf herangewachsen, der die Götter verschlingen könnte. Und wenn man Hel nicht eingesperrt hätte, hätte sie nicht die Herrin von Helheim werden können. Deshalb hatte Loki die Götter gewähren lassen und nahm dann nur kleine Korrekturen vor. So erzählte er Hiti davon, dass Thor für ihn kommen würde, damit er und seine Schützlinge, die Tieflinge und Meermenschen, bereit wären. Epios hingegen half er dabei, seine Ketten zu sprengen.
6
Bevor der Tricksergott darlegen konnte, was er für Hel getan hatte, hatte diese, bislang stumm und mit frostigem Blick zuhörend, sich zornerfüllt von ihrem Thron erhoben. Sie stürmte auf ihren Vater zu und klagte ihn an, dass er wollte, dass Ragnarök passiert. Dass es ihm nach dem Ende der Welten verlangte. Deshalb tat er alles, um die Prophezeiung zu erfüllen. Doch daraufhin lachte ihr Vater erneut und er wies daraufhin, dass er laut jener Prophezeiung selbst sterben wird, sich und Heimdal gegenseitig erschlagend. Hel erwiderte nur trocken, dass jemand, der bereit war, sich für eine Trickserei von einem Pferd schwängern zu lassen, sicher auch seinen Tod im Kauf nehmen würde. Zwar leugnete Loki nicht, dass er wohl wirklich eines Tages genau dies tun würde, so versicherte er ihr, dass dieser Tag noch nicht gekommen war. Nein, im Gegenteil, er wollte die Welten retten. Schließlich war ein Tricksergott ohne Wesen zum Austricksen ziemlich nutzlos. Hel glaubte ihm nicht, denn wenn er die Welten retten wollte, warum hat er ihr und ihren Brüdern dann dabei geholfen, genau jene Macht zu erlangen, mit der sie laut der Prophezeiung die Welten zerstören werden? Loki erklärte, weil das Schicksal es so wollte. Wenn er nichts getan hätte, dann wären seine Kinder auch so zu den weltenzerstörenden Monstren geworden, so wie es vorhergesagt wurde. Dies vermengte Hels Zorn mit Verwirrung, denn versuchte ihr Vater denn nun das Schicksal gewähren zu lassen oder wollte er es verhindern? Weder noch, erwiderte er. Er wollte es austricksen. Deshalb ließ er es gewähren, doch manipulierte er das Geschehen, um es in eine andere Richtung, es zu einem anderen Ende zu lenken. Denn wenn seine Kinder die Macht hatte, die Welten zu enden, so konnten sie auch jene retten. Also gab er seinen Kindern Gründe, sich um die Welten zu scheren. Indem er Hiti eine Gemeinschaft gab. Und Epios eine Familie. Letzteres ließ Hel stutzen, denn wollte ihr Vater implizieren, dass ihr wölfischer Bruder ein Vater war? Wer war denn die Mutter? Die Offenbarung, dass die hellenische Göttin der Jagd, Artemis, sich in Epios verliebt und seine Kinder unter den Herzen trug, war schwerer für Hel zu schlucken als die ganze Ragnarök-Geschichte. Zwar hatte sie von ihrer Freundschaft gehört, doch sie ahnte nichts davon, dass sie viel weiter erblüht war. Falls ihr Vater wirklich die Wahrheit sagte.

Der letzte Teil der Geschichte wird in zwei Wochen, am 26. April 2024, veröffentlicht.

Admin - 10:09:52 @ Mythen, nordische Kultur | Kommentar hinzufügen