2024-08-16
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Interpretation des Hel-Mythos
Zentraler Wert
Somit kommen wir zu dem letzten der drei Kinder Lokis. Erneut gibt es eine Spiegelung zu den anderen beiden Mythen, aber vor allem zum Hiti-Mythos, weil die halbverweste Schwester wie ihr Schlangenbruder eine zentrale Position in einer Gesellschaft einnimmt. In ihrem Fall die der Toten in der Weißen Weite. Wie aber zuvor bei Epios, lässt sich eine andere Bedeutung aus der Symbolik des Mythos und damit ein anderer Bezug zum Ideal der Freiheit herstellen: Einer, geknüpft durch Gerechtigkeit.
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Dies mag vielleicht für den geneigten Leser überraschend sein, denn dieser Wert mutet ganz anders an als der der Gesellschaft und der der Familie. Deutlich weniger intimer, vor allem wenn man mein eigenes Beispiel zuvor ins Gedächtnis ruft, in dem ich das Urteil eines Richters herabwürdige, weil es nicht die emotionale Schlagkraft wie das Urteil der eigenen Mutter besitzt. Deshalb will ich zuerst eine klare Differenzierung drei verschiedener, aber zusammenhängender Begriffe vornehmen: Gerechtigkeit ist das Ideal, dessen Erreichen oder stetig bemühte Herannähern eine Gesellschaft aufblühen lässt. Recht hingegen ist das Werkzeug, mit welchem man versucht, jenes Ideal zu erreichen. Und die moderne Justiz, welche eine Ausformung jenes Werkzeug darstellt und für den gemeinen Bürger oftmals so entrückt vom banalen Leben wirken kann.
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Recht dürfte für viele nun als ein Werkzeug erscheinen, mit dem Freiheit genommen wird, um im besten Fall Sicherheit und im schlimmsten Fall Unterdrückung zu gewährleisten. Zwei Fälle, die beide im Hel-Mythos zur Geltung kommen. Zuvor will ich aber wagen, eine weit verbreitete, aber in meiner Ansicht fehlgeleitete Dichotomie zwischen Freiheit und Sicherheit infrage zu stellen, mit Hilfe des Hel-Mythos.
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Man sähe sich an, was für Verhältnisse in der Weißen Weite vorherrschten, bevor Hel ihre Herrschaft etablierte: Es gab niemand, der Autorität ausübte und Recht sprach. Die Toten waren von den Göttern Asgards vergessen worden und konnten von den Lebenden nur erinnert werden, sodass sie vollkommen frei und auf sich allein gestellt über die Weiße Weite wanderten. Doch inwiefern war diese große Freiheit und Unabhängigkeit etwas Gutes für die Toten? Sie war es nicht, gerade für die Schwächeren, denn eine Freiheit, die sich allein dadurch ausdrückt, dass man tun und lassen kann, was man will, ist allein den Stärkeren vergönnt, deren animalisches „Recht“ in einem rechtlosen Raum triumphiert. Wodurch er sich frei vom Schwächeren alles nehmen kann, während der letztere hingegen nicht die Freiheit hat, sich zu weigern.
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Man könnte nun aber zu Recht einwenden, dass die Existenz nach dem Tod eine andere ist als die im Leben. Dass sich die Regeln auf der Erde und dort in der Weiße Weite deutlich unterscheiden. Doch einer der hier entscheidenden Unterschiede unterstreicht meinen Punkt: Weder heutzutage noch in der Vergangenheit und sicher auch noch in die Zukunft hinein waren die allermeisten Menschen allein. Denn von Natur aus agiert der Mensch immer in der Gesellschaft anderer und dieser Hang ist nicht einmal etwas, was er von den Göttern auferlegt oder gelehrt bekommen hatte. Schon unsere Vorfahren, noch mehr animalische als vernunftbegabten Wesen zu sein, lebten in Gruppen*1 zusammen.
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Vermutlich hat es zwar schon von Anbeginn der Zeit Einzelgänger gegeben, die ein Dasein als Einsiedler vorzogen. Doch wählten sie damit wirklich ein freieres Leben? Sie mögen vielleicht frei entscheiden können, solch eine Existenz anzutreten und, wenn sie Glück haben, wieder zu beenden. Wenn sie aber allein in ihrer Hütte oder Höhle hocken, haben sie keine Freiheit, weil sie sich nicht leisten können. Denn ihr ganzer Tag wird vom Überlebenskampf verschlungen, denn ein Mensch auf sich allein gestellt hat nur begrenzt Kraft und Zeit. Zudem sind seine Überlebenschance generell geringer als die von jemand, der in einer Gruppe lebt, denn schon ein einzelner Unfall oder Krankheit kann sein Aus bedeuten. Ein Aus, dass im schlimmsten Fall sich Zeit lässt, während man kraftlos am Boden liegt, unter Qualen darauf wartend, dass der Tod mühsam langsam herangekrochen kommt. Womit das Schlimmste an der Weiße Weite damit nicht die Kälte oder die Einöde ist, sondern das pure Fehlen einer Möglichkeit, dem allen entkommen zu können. Denn somit passierte genau dies, von dem Hel Zeuge wurde: Jene Toten, die keine Gemeinschaft hatten und sich auch nicht allein erwehren konnten, waren dazu verdammt, auf ewig die Opfer der Bösartigen zu sein.
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Doch inwiefern hängt nun die tiefverwurzelte Neigung des Menschen, in einer Gemeinschaft zu interagieren, mit Gerechtigkeit zusammen? Es ist recht simpel: Gerechtigkeit ist der Lebenssaft einer Gemeinschaft, sowohl einer kleinen wie eine Familie hin zu einer großen wie eine Nation. Für manche meiner Leser mag meine Interpretationen der beiden Mythen über Hels Brüder etwas naiv erscheinen im Bezug auf den Wert von Gemeinschaft, denn ich ging hauptsächlich nur auf das Gute ein und wie sie den Einzelnen von schlechten Einflüssen von außen beschützen kann. Natürlich kann aber auch innerhalb einer Gemeinschaft etwas im Argen liegen oder im furchtbarsten Fall die Quelle aller Qualen sein, die ihre Mitglieder ertragen müssen. Ich erwähnte bereits, dass Hiti als ein guter König, der mit seinem Volk lebt, ein Gegenstück zu einem schlechten darstellt, welches über es lebt und es ausnutzt. Und ebenso kann natürlich das Oberhaupt einer Familie ein tyrannischer Vater sein, der Frau, Kinder, Geschwister, Neffen und so weiter und so fort allein als Werkzeuge für seine eigene Ziele nutzt, seine Bedürfnisse über die allen anderen stellend.
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Solche verkommenden Gemeinschaften, in denen es nur um das Wohlergehen weniger geht, sind ungerecht. Denn Gerechtigkeit bedeutet, sich um die anderen zu scheren. Ihre Bedürfnisse und Wünsche zu beachten und sich ihre Sorgen und Befürchtungen anzuhören. Damit gab es vor der Gründung Helheims in der Weißen Weite nur wenig Gerechtigkeit. Die meisten Toten hatten zu viel Furcht sowie Misstrauen vor den anderen und versuchten ihr Glück allein, sodass sie nicht genügend sich scherende Gerechtigkeit verspüren konnten, um eine Gemeinschaft zusammenzuleimen. Woran natürlich die umherziehenden Mörderbanden, durch und durch bösartige Ausgeburten der Ungerechtigkeit, die Hauptschuld trugen. Doch auch Hel – und das mag nun wie ein sehr unfaires Urteil klingen – war ungerecht, als sie noch als ein namenloses Mädchen über die Weiße Weite schritt, sich nicht um die Toten scherend. Allerdings nicht aus Bösartigkeit, denn wie sie es den alten Sven gestand, kapselte sie sich von den leidenden Toten um sich herum ab, weil sich scheren bedeuten würde, sowohl sich mit ihren als auch mit ihren eigenen Qualen konfrontieren zu müssen. Eine Denkweise, die ebenfalls in der sterblichen Welt weit verbreitet war und ist, denn von nahezu allen Orten und Zeiten gibt es Berichte über Einzelne, die die Einsamkeit jenseits der Gemeinschaft aufsuchen. Und während viele dies nur für eine kurze Zeit tun, um zum Beispiel dem Göttlichen oder der Natur näherzukommen oder auch einfach nur, um den Kopf zu klären, begehen andere eine Weltflucht, um sich allen Übeln und Qualen anderer zu entziehen. Es mag sehr nachvollziehbar sein, denn wer, der auch nur einen Funken Empathie in sich brennen hat, war schon nicht von dem Leid geplagt worden, welches leider auch in unserer großartigen Allianz, aber vor allem auf den anderen Kontinenten tobt? Doch was bringt es? Dem Unheil wird so nur erlaubt sein, weiter zu grassieren, und früher oder später erreicht es jeden.
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Denn kein Mensch und auch keine Göttin kann sich für immer der Gesellschaft anderer entziehen. Selbst über den Eremiten, der sich den abgelegensten Ort als seine Zuflucht aussucht, werden früher und später andere Menschen stolpern. Wenn der Eremit Glück hat, dann ist es nur ein neugieriger Wanderer. Wenn nicht, dann sind es eher Räuber, die sich ein einfaches Opfer suchen. Somit war es für eine halbverweste Göttin unmöglich, für immer allein über die Weiße Weite zu ziehen und sich den Toten, ihren Mitwesen, auf Dauer zu entziehen. Und sobald sie sich dafür entschied, sich um die anderen zu scheren, wurde das Existieren auf der Weiße Weite für alle erträglicher und vor allem freier. Denn sobald die Toten begannen, Hel als ihrer Herrscherin zu folgen und unter ihrer Führung Helheim zu errichten, konnten sie ihr Dasein in Sicherheit fristen, da Hel sie vor den umherwandernden Schurken schützte, indem sie über sie richtete. Sie bot ihrer neuen Gemeinschaft Sicherheit. Um den Bogen nun zurück zum Anfang zu schlagen: So mancher würden nun behaupten, dass die Toten ihre Freiheit für jene Sicherheit hergeben mussten. Dies ist durchaus nicht inkorrekt, aber zu kurz gedacht. Denn ich würde argumentieren, dass in Wahrheit durch die Sicherheit eine mindere Form der Freiheit für eine wertvollere ausgetauscht wurde. Zwar mussten die Toten durchaus die Freiheit aufgeben, ohne jegliche Verpflichtungen durch die Weiße Weite ziehen zu können, doch dafür erhielten sie die Freiheit, ohne Angst und Sorgen ihre Existenz auskosten zu können.
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Und so spielt es sich auch in der Welt der Sterblichen ab. Zwar könnte eine Familie versuchen, sich allein durchzuschlagen, doch dann muss sie für sich allein sorgen und ist auf sich selbst gestellt, wenn Gefahr droht. Ihre Entscheidungsfreiheit und die Freiheit von externen Pflichten wird vom Überlebenskampf verschlungen. Wenn diese Familie sich hingegen mit anderen zusammentut und einen Stamm oder ein Dorf bildet, dann sind sie nicht mehr allein, müssen aber sich um andere scheren. Und da dieses Zusammenleben nicht immer harmonisch ablaufen wird, muss jemand Recht sprechen, damit die Mitglieder sich nicht gegenseitig durch Unrecht die Freiheit nehmen.
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Natürlich sollte ich hier aber erneut meine zu überwuchern drohenden Optimismus etwas zurecht stutzen. Vor allem, da der aufmerksame Leser einwenden könnte, dass ich zuvor darauf einging, dass die Götter in den Mythen die alten Herrschaftssystemen versinnbildlichen und es letztendlich darum geht, dass diese ungerecht waren. Die Hauptprämisse meiner Interpretation stellt schließlich dar, dass die drei Kinder Lokis die Rebellion gegen solche verkrusteten Strukturen anstrebten. Doch stellten gerade Könige oder ähnliche Machtpositionen für Jahrhunderte der zentrale Punkt der allermeisten Gesellschaften Moras dar. Würde dies aber nicht bedeuten, dass sie durch ihr Herrschen, durch ihr Rechtsprechen die Gemeinschaft um sich herum zusammenhielten? Bei aller Kritik, die ich bislang an den vormodernen Gesellschaftsformen Moras durchscheinen ließ, so gestehe ich trotzdem offen ein, dass sie genau dies getan hatten. Auch wenn ich selbst wie die allermeisten modernen Moraner Demokratie vorziehe, so denke ich aber auch, dass es besser ist, unter einem König zu leben, als auf sich allein gestellt zu sein. Zumindest wenn in seinem Recht die Gerechtigkeit die Ungerechtigkeit überwiegt. Dass dies aber sehr oft nicht sichergestellt werden konnte von verschiedenen Monarchien stellte den Grund dar, warum neue Systeme des Herrschens und des Rechtssprechens letztendlich Fuß fassen mussten. Doch dieses Neue entwuchs nicht einer Zerstörung des Alten, sondern der Weiterentwicklung, dem Fortdenken sowie der Reformation vieler rechtlicher Praktiken, die bereits existierten.
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Und dies spiegelt sich auch in Hels Form der Herrschaft. Sie nimmt sich der von Asgard ignorierten Toten an, all jene, die als unwürdig für Walhalla angesehen wurden, weil sie von dem Strohtod aus dem Leben abgeholt wurden. Indem sie bereit war, sich ihrer eigenen Qualen und die der anderen anzunehmen und zu beginnen, sich zu scheren, konnte sie ein Heim inmitten der Weiße Weite schaffen. Und weil sie von ihren eigenen schmerzhaften Erinnerungen an das Fristen im Kerker unter Asgard, gequält von den durch Angst zu Ungerechtigkeit getriebenen Göttern, zehrte, gelang es ihr, selbst denjenigen Toten, die von dem sterblichen Recht hingerichtet wurden, Empathie entgegenzubringen und sie erneut zu richten. Somit schaffte sie ein gerechteres Recht, welche letztendlich, weil sie wie ihre Brüder mit den Göttern Asgard einen Handel abschloss, das Alte nicht zerschmetterte, sondern ergänzte.
*1 Dies wird durch Funde der Archäologie bezüglich des Urmenschen belegt. Zudem deuten auch die Beobachtungen des Gruppenverhalten von unseren nächsten evolutionären Verwandten (Riesen, Trollen und Menschenaffen) daraufhin, dass der Mensch in vorzivilisatorischer Zeit in ähnlichen Gruppen agierte. vgl. Ellenstein, 418, Doch, unser Onkel ist ein Troll, S. 134-156
Der letzte Teil der Interpretation wird in zwei Wochen, am 30. August 2024, veröffentlicht.
Admin - 10:09:01 @ Mythen, nordische Kultur, hellenische Kultur | Kommentar hinzufügen