2025-06-20
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„Das ist doch nur eine weitere Behauptung aber, mit der Wissenschaftler die Wahrheit vertuschen wollen“, erwiderte Gabriel, trotzig die Arme verschränkend. Bevor die Klasse zu sehr in genervtes Ausrufen explodierte, ging Petrus diese Erwiderung direkt an: „Welche Wahrheit meinst du genau? Was ist deine alternative Erklärung?“ „Ghuls sind nicht unsere Verwandten“, beharrte der Junge und verkündete dann: „Sie sind Abkömmlinge von Sündern, die gegenüber Gott so unaussprechlich bösartig handelten, dass er ihre Blutlinien verdammte.“ Auch dem sich entfaltenden Gelächter wusste Petrus Einhalt zu gebieten: „Ich würde euch allen raten, euch hier an die eigene Nase zu fassen. Solche Vorstellungen sind in allen Kulturen Moras verbreitet. Hier im Norden glauben noch heute Leute, dass Ghuls Draugr, also wiederauferstandene Tote, sind. Im Hellenischen Großreich hingegen erzählt man sich von Styxtrunkenden, die von Charon nicht nur die Überfahrt über den Styx verweigert bekommen haben, sondern wegen ungeheuerlicher Missetaten von ihm im Zorn in dessen Wässern ertränkt worden. Das Wort ‚Ghul‘ selbst stammt zudem aus der Mythologie des Morgenlandes und ist der Name eines Leichen fressenden Dämons.“ Es lachten nur noch ein paar Kinder, sodass Petrus seine Aufmerksamkeit wieder Gabriel widmen konnte: „Du bist also der Ansicht, dass anstatt einer nahen Verwandtschaft ein Fluch für die Menschenähnlichkeit verantwortlich ist?“ „Ja.“ „Kannst du auch dann auch erklären, wie Gott Sünder verflucht hat?“ „Was?“, verstand der Junge nicht sofort. „Er verfluchte sie, weil sie scheußlichen Sünder waren.“ „Das ist aber nur sein Warum. Ich fragte nach seinem Wie.“ „Gottes Wege sind unergründlich“, beharrte Gabriel, sichtlich um eine konkrete Antwort verlegen. „Für uns Menschen sind sie nicht begreifbar. Und wir müssen es auch nicht.“ „Findest du das aber nicht, dass dies eine sehr unbefriedigende Antwort ist?“, hakte Petrus nach. „Vor allem, wenn sie von einem anderen Gott käme? In der Wissenschaft müssen wir uns nicht auf solche Dogmen verlassen. Stattdessen beobachten wir die Natur. Sehen, wie Tiere, wie eben uns, Merkmale an ihre Nachkommen vererben. Graben uralte Skelette aus von Arten, die nicht mehr leben und fremdartig sind, aber nicht vollkommen entrückt von uns erscheinen. Anhand solcher Beobachtungen schmieden wir Theorien, die all dies erklärend in Einklang bringen. Anstatt uns auf dahingesagte Ausflüchte wie, ein Gott hat es getan, zu verlassen.“ Auch wenn Petrus versucht hatte, seine Worte mit Bedacht zu wählen, bewiesen doch die geballten Fäuste Gabriels, dass man diese Kluft zwischen Wissenschaft und Glauben nicht direkt ansprechen konnte, ohne dass sie höhnisch gähnte.
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„Sie tun so, als würde die Welt an sich Ihren Glauben rechtfertigen, so sehr sie auf Beweise pochen“, erwiderte Gabriel, zwar sichtlich wütend werden, sich aber doch beherrschend, um ihren Kompromiss einzuhalten. „Doch dann sagen Sie mir: Wo sind die Hybridmenschen hier? Hier in der Halle des Menschen?“ Theatralisch weitete der Junge die Arme: „Ihr Evolutionsgläubigen könnt nicht deren Sein erklären und tut deshalb einfach so, als wären sie keine Menschen. Behauptet einfach, die Alfen hätten sie geschaffen. Euer ganz eigener Schöpfungsmythos.“ „Es ist zugebenerweise eine unglückliche Entscheidung, keine Skelette von Hybridmenschen hier in der Halle des Menschen auszustellen“, gestand Petrus ruhig, denn natürlich hatte er sich ebenfalls auf diesen Punkt vorbereitet. „Doch ich versichere dir, dass es nicht getan wurde, weil man Hybridmenschen Menschlichkeit abspricht. Allerdings hast du durchaus Recht, dass man sie nicht hier, wo es um die Abstammung des Menschen geht, ausstellte, weil ihre Existenz für die Evolutionstheorie ein Paradox darstellt. Ein Rätsel, welches nicht mit dem, was wir bislang über Evolution wissen, gelöst werden kann.“ „Weil man noch keine Urwolfmenschen gefunden hat?“, fragte das kleine Fuchsmädchen zaghaft. Sie knete wieder ihren buschigen Schwanz, sicher von der sich wieder anspannenden Stimmung verängstigt. „Was sind wir überhaupt genau? Eine andere Art, wie die Ghuls?“ Petrus gab ihr ein freundliches Lächeln: „Nein, du bist ein Mensch. Daran gibt es keinen wissenschaftlichen Zweifel. Allerdings debattiert man tatsächlich sehr darüber, wie man Hybridmenschen auf den Baum des Lebens setzen soll. Die einen sprechen sich dafür aus, dass es sich um Unterarten handelt. Die anderen wiederum würden eine eigene Klassifizierung vorziehen, eben weil Hybridmenschen nicht das Produkt natürlicher Evolution zu sein scheinen. Weil man bislang nicht die Überreste von Urhybridmenschen gefunden hat und es unplausibel erscheint, dass aus einer Art in vergleichsweise kurzer Zeit so viele außergewöhnliche Variationen hervorgekommen sind, bei denen von Schuppen zur Feder und vom Flügel zum Beinschwanz eine weite Vielfalt an Merkmale vertreten ist, die man nicht bei anderen Arten vorfindet. Nicht einmal bei Drachen.“
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„Warum klingen Sie so, als würde Sie erwarten, man würde noch solch einen Urhybridmensch irgendwann ausgraben?“, wunderte sich das Mädchen mit dem rabenschwarzen Haar. „Denken Sie etwa nicht, dass die Alfen Harpyien und so geschaffen haben?“ „Ich halte das allein für eine plausible Hypothese, eine Vermutung“, erklärte Petrus und richtete seinen Blick wieder auf Gabriel: „Deine Kritik war durchaus richtig. Denn so wie du nicht erklären kannst, wie Gott die Ghuls verflucht haben soll, so kann ich ebenso nicht erklären, wie die Alfen Hybridmenschen geschaffen haben. Diese Hypothese beruht allein darauf, dass historische Quellen von sehr alten Kulturen darauf hindeuten, dass die Hybridmenschen mit den Alfen nach Mora kamen. Doch selbst das steht auf wackligen Beinen, weil es weit zurück in der grauen Vorzeit liegt, wo Überlieferung mit Sage verschmilzt.“ „Aber warum geben Sie nicht zu, dass Sie einfach das Ganze glauben? So wie ich an Gott glaube?“, forderte Gabriel zu wissen, worauf Petrus schlicht antwortete: „Ich glaube es nicht, weder in religiösen noch im wissenschaftlichen Sinne. Denn es ist nur eine Hypothese, die noch belegt oder widerlegt werden muss. Keine Theorie, die sich bewährt hat. Somit weiß ich und die Wissenschaft im Ganzen nicht, wie Hybridmenschen entstanden sind. Vielleicht finden wir eines Tages irgendwo eine Alfenruine, die die Antwort in sich birgt. Oder man gräbt eben doch eine Urharpyie aus, womit die ganze Alfenhypothese widerlegt wäre. Denn wie ich sagte: Wissenschaft gibt nicht Gewissheit, sondern Wissen, welches immer auf den Prüfstand gestellt werden muss.“
Der nächste Teil der Geschichte wird in zwei Wochen, am 04. Juli 2025, veröffentlicht.
Admin - 21:13:21 @ Naturkunde, Erzählung | Kommentar hinzufügen