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Blogpost aus Mora


2023-10-13

Hiti und die Tieflinge - Teil 3

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Ermutigt von ihrem ersten Erfolg veränderte die Tieflinge ihre Lebensweise. Anstatt zu fliehen oder sich hinter Hiti zu verstecken, begannen sie die Jäger zu werden. Immer größer wurden die erlegten Seeungeheuer und damit der Ruhm des Stammes. Tieflinge von allen Ecken der Untiefen kamen zu Hiti zugeströmt, um an den neuen Reichtum an Nahrung teilhaben zu können. Bereits zuvor wuchs der Stamm dank Hitis stetig, doch nun mauserte er sich zu einer Gesellschaft, die ihre neugewonnene Stärke sogleich nutzte, um die erlegte Beute bis zur letzten Schuppe, Knochen und Fleischstück auszuschlachten. Eine Herangehweise, die zuvor für das reine Überleben notwendig war, nun aber zu einem Überfluss an Materialien führte, die nicht allesamt zu Werkezuge und Waffen umgewandelt wurden. Somit begannen vor allem die jüngeren Tieflinge an, zu experimentieren: Sehr zum Verdruss der Älteren nähten sie Zelte, die farbefroh und etwas zu groß wurden. Oder behängten sich selbst mit Bruchstücken schillernder Schuppen, nicht ahnend, dass sie für ihr Volk das Konzept von Schmuck entdeckt hatten. Manche spielten hingegen mit den Häuten und Knochen herum und bauten Instrumenten, die mit ihren Tönen die Gesänge bereicherten.
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Doch Zahl und Kultur erwiesen sich nicht als die einzigen Dinge, die sich wandelten. Anfangs äußerte sich dieser Wandel schlicht und wenig auffällig. Zwar merkten die Tieflinge, dass sie stärker und ausdauernder wurden, doch dies konnten sie noch damit erklären, dass sie durch die Jagd viel mehr speisen konnten als zuvor. Dann allerdings sahen sie auch, dass ihre Nächstgeborenen sich noch mehr änderten, als nur zu erstarken, denn zu einem wurden ihre Fischschwänze länger, sodass sie mehr dem Körper von Aalen anmuteten. Zu anderem begannen ihrer Körper zu glühen. Sie wurden nicht einfach wärmer. Stattdessen strahlte ihr Körper eine Hitze aus, die das kalte Wasser um ihnen herum aufwärmte. Dieses Phänomen ermöglichte es den Tieflinge letztendlich, dieses Rätsel zu lösen. Denn während die Eltern sowie die Mitgliedern der Gesellschaft ein solches Kindes ohne Probleme berühren konnten, so verbrannte sich ein Neuling hier Hand und Flosse. Aber auch nur so lange, bis er von Hitis Blut kostete.
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Hiti veränderte die Tieflinge damit also nicht nur seelisch, sondern auch körperlich. Nach einer kurzen Phase der Unsicherheit nutzten die Tieflinge diesen selbst von der Schlange unerwarteten Segen dazu, ihre Jagdmethoden zu verfeinern. Doch dabei verblieb es aber nicht, denn als eine Jagdgruppe wagte, ein fliehendes Seeungeheuer in eine höhere Ebene der Tiefsee zu verfolgen, so merkten die Jäger, dass der Schmerz ausblieb. Dass sie problemlos atmen konnten. Die besonders Mutigen unter ihnen wagten sich noch höher, mussten dann letztendlich aber wieder sinken, denn ihre Kiemen begannen zu schmerzen. Doch die Neugierde war geweckt worden, sehr zum Missfallen Hitis, denn er verband mit der Oberfläche nur seine schlimmsten Erinnerungen. Doch erneut erwiesen sich die Tieflinge als dickköpfig und mit jeder Generation wurden sie stärker und konnten sich höher wagen. Bis endlich der Kopf des ersten Tieflings das dunkelblaue Wasser der nördlichen See durchbrach.
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Nur sodass dieser sich schreiend zurück in die Tiefe fallen ließ, sich seine von der Sonne verbrannten Augen zuhalten. Die Augen der Tieflinge erwiesen sich als ebenso empfindlich wie Hitis, aber deutlich weniger widerstandfähig, denn der Unglückselige war geblendet worden. Auch wenn Hiti wie immer den Schmerz eines Tieflings mitfühlte, so hoffte er aber auch, dass dies die Tieflinge entmutigte. Doch diese werkelte einfach mit Schuppen und Knochen herum, bis sie simple Schutze für ihre Augen geschaffen hatten. Mit diesen wagten sie sich wieder hoch und konnten die Welt da oben erkunden, auch wenn sie natürlich blind wie Maulwürfe sich umher tasten mussten. Jedoch erwies sich ihr feines Gehör als äußert nützlich, sich nicht nur auf den Wellen, sondern auch auf den Küsten zu orientieren, auf denen sie für kurze Zeit kriechen konnten, denn ihre Kiemen waren so sehr gestärkt worden, dass sie Luft einsaugen konnten.
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Dies war auch das erste Mal, als die Tieflinge die Menschen trafen. Und die Menschen die Tieflinge. Ein äußert befremdliches Treffen für beide Seiten, welches leider vor allem anfangs oftmals blutig endete. Doch die Tieflinge blieben unermüdlich und über weitere Generationen hinweg kamen sie den Menschen näher, die an den Küsten lebten. Sprachen wurden gelernt und Gebräuche wurden vertraut. Mit der Vertrautheit kam der Handel, wenn es auch anfangs ein ungewöhnlicher. Denn während die Menschen sehr an die exotischen Muscheln, glitzernden Schuppen sowie leuchtenden Korallen interessiert waren, so konnten sie den Tieflingen nichts Handfestes anbieten. Denn das meiste, was an der Oberfläche wuchs oder geschaffen wurde, konnte nicht mit in die Tiefe genommen werden. Also begnügten die Tieflinge sich mit mündliche Schätze: Wissen und Geschichten. Dutzende von Tieflinge versammelten sich an Stränden, um einen redewilligen Menschen zu zuhören, während er von der weiten Welt erzählte. Von großen Städten, von bunten Märkten sowie gewaltigen Bauten. Von Kriegen, von Großtaten und von Umwälzungen. Gespannt lauschten die Tieflingen, auch wenn vieles schwer zu begreifen war. Später erzählte sie Hiti von alles, der nur wegen ihrer Freude zuliebe zuhörte. Wie ein Vater, der den „Abenteuer“ seines Kindes lauschte. Denn immer noch ächtete er die Oberfläche und wollte nichts wissen. Doch die Erzählungen seiner Freunde gaben ihn auch Grund zur Sorge, denn oftmals berichteten sie von Thor und seine Züge durch das Land, um irgendjemanden zu erschlagen und irgendetwas umzuwerfen. Den Hiti fürchtete, dass Thor nun auf die Tieflinge aufmerksam werden könnte, wo sie nun mit dessen Schützlingen sprachen. Vielleicht würde sich dies als der Auslöser für alles erweisen. Doch welcher Sinn machte es wirklich, dies zu fürchten? Das Schicksal war gewoben worden und nichts konnte diese Fäden durchtrennen. Wenn es die Tieflinge glücklich machte, den Menschen zu lauschen, so würde er es gewähren. Zumal seine Freunde sich sowieso nichts sagen ließen.
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Tatsächlich würde aber das Lauschen eine interessante Verkettung von Ereignissen zum Rasseln bringen. Eines Tages kam ein Gelehrter, ein Tüftler, der den Tieflingen über seine Erfindungen erzählen wollte. Jedoch verwendete er dabei viele schwierige Wörter und bezog sich auf Dinge sowie Konzepte, die für die Tieflinge zu abstrus waren. Sehr zu einer Traurigkeit verließen nach und nach alle Tieflingen seinen Vortrag. Bis auf eine. Obwohl sie ebenso wenig verstanden hatte wie die andere, war sie fasziniert worden und bat den Tüftler, als sie allein war, ihr mehr zu erzählen. Er tat dies und beantwortete nicht nur all ihre zahlreiche Fragen, sondern erklärte auch all die Begriffe und Konzepte, die er in den Mund genommen hatte. Ein langwieriges Unterfangen, welches aber für den Tüftler in dem Gewinn einer ungewöhnlichen Assistentin mündete. Zusammen tüftelten und schufen sie viele geistreiche Erfindungen.
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Doch je enger ihr Band wurden, umso mehr quälte der Tieffrau, dass sie nicht an der Oberfläche sehen konnte. Nicht, weil es ihr beim Tüfteln behindert, denn ihr Tast- und Hörsinn konnten dies ausgleichen. Zumal sie in einem abgedunkelten Raum in dem von ihrem Körper ausgehenden Licht arbeiten konnte. Nein, was sie heimsuchte, war die Sehnsucht danach, das Gesicht ihres Freundes zu sehen. Denn dies war für Tieflinge noch wichtiger als für Menschen. Denn in der Tiefe hatte man wenig Licht, zumeist nur das einige, sodass man die anderen Tieflinge öfter hörte als sah. Wenn man aber eine Beziehung mit jemanden hatte, so teilte man mehr Zeit unter dem gemeinsamen Licht. Je vertrauter das Gesicht des andere war, umso tiefer war der Bund. Deshalb quälte es sie sehr, dass sie nicht sein Gesicht richtig sehen konnte. Zwar konnte sie es in einem abgedunkelten Raum sehen, doch sie merkte, dass es ohne das Licht der Sonne, dem Licht seiner Welt, nicht sein wahres Antlitz war.
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Dieses Verlangen trieb sie dazu an, zu versuchen, ohne den Schutz sich in Licht der Oberwelt zu wagen. Glücklicherweise war sie nicht so töricht, es gleich mit der Sonne zu versuchen. Stattdessen sperrte sie sich in ein Zimmer mit abgedunkelten Fenstern ein und entzündete eine Kerze. Ihr Freund musste jedoch sogleich einen Schrei hören und als er ins Zimmer gestürmt kam, sah er sie auf den Boden gekrümmt und sich die Augen zu halten. Hastig verschloss er die Tür und löschte die Kerze. Anschließend weinte die Tieffrau sich in seinen Armen aus, während sie ihm erklärte, was das Problem war. In diesen Moment entschloss er sich, ihren Wunsch zu ermöglichen. Sieben Wochen lang experimentierte und tüftelte er, bis er sie geschaffen hatte: eine Brille mit getönten Gläser, die das meiste des grellen Lichtes ausfiltern sollte. Natürlich probierte er die Effektivität seiner Brille vorsichtig aus, indem er die Tieffrau sie in einem abgedunkelten Raum mit einer einzelnen Kerze ausprobieren ließ. Das Experiment erwies sich als voller Erfolg in mehr als nur einen Aspekt. Denn als die Tiefrau im Kerzenschein zum ersten Mal das wahre Antlitz ihres Freundes sah, wurde sie sich ihrer wahren Gefühle bewusst und küssten ihn.
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Nach einer Weile hatten sie beiden die Brille perfektioniert und begannen eine Manufaktur mit einer Schar von Gehilfen, die sich aus Menschen und Tieflinge zusammensetzte, allesamt von der Kunde über ihrer Erfindung angelockt. Damit gewannen die Menschen ihr erstes handfestes Handelsgut, welches sie zusammen mit den Versprechen der sicheren Aufbewahrung den Tieflingen verkaufen konnten. Die Tieflinge hingegen konnten, wenn auch getönt, die Schönheit der Oberwelt sehen. Doch dies erwies sich nicht als die einzigen Veränderungen, die dieses Paar bescheren würden. Denn ein Jahr nach der Erfindung der Sonnenbrillen gebäret die Tieffrau eine Tochter. Diese Tochter hatte den langen Aalkörper sowie die Flossen ihrer Mutter, während die Augen und die Lunge von ihrem Vater geerbt wurden. Damit erwies sie sich zwar als eine hervorragende Schwimmerin wie ihre Mutter, doch die Tiefe blieb ihr versperrt, denn ihre Lungen konnten nur wie die eines gewöhnlichen Menschen für wenige Minuten Luft aufbewahren. Dafür konnte sie sich aber frei über das Land bewegen, mit klarem Atem und ungeblendeten Augen. Ihr stand die ganze Welt über dem Wasser offen, in dieser Geburtsstunden der Meermenschen.

Der nächste und letzte Teil erscheint am 27.10.2023.

Admin - 11:26:40 @ Mythen, nordische Kultur | Kommentar hinzufügen

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