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Neues aus Mora





 

Blogpost aus Mora


2024-02-02

Das erfrorene Mädchen - Teil 1

1
Das junge Mädchen fror. Allerdings nur zur Hälfte. Während Fleisch und Blut ihrer Linken bereits seit Ewigkeiten steif gefroren waren und allein von einem Funken tief in ihr am Leben gehalten wurden, so regten sich die Knochen ihrer Rechten unentwegt, einen Schritt nach den anderen durch den dicken Schnee tuend. Nachdem das Mädchen eine kleine Schneewehe überwunden hatte, sah sie über die weiße Weite hinweg zum unerreichbaren Horizont. Links prangte ihr gefrorenes Auge ausdruckslos, unterstrichen von zusammengefrorenen Lippen, die vielleicht Gleichgültigkeit oder Distanz ausdrückten. An einem Ort wie diesem machte es keinen Unterschied. Rechts gähnte eine leere Augenhöhle, in dem nur die hängenden Eiszapfen etwas ausdrückten: die Unnachgiebigkeit, mit der diese weiße Leere alles zum Halt brachte, auf das es eins mit ihr werden konnte.
2
Eine Vorstellung, die das Mädchen nicht fürchtete. Einmal hatte sie sich fallen lassen, ihr Fleisch dem Schnee dargeboten und ihre rastlosen Knochen im Zaum gehalten. Eine lange Weile hatte sie reglos gelegen, den Schnee mit seiner beißenden Kälte sie bedecken lassen. Sie wusste nicht, wie lange es gewesen war. Vielleicht eine oder zwei Äonen. Dann erhob sie sich wieder, dann ihr war langweilig geworden.
3
Sie fror, doch ihre Knochen, das Tote an ihr, wollten nicht ruhen. Konnten nicht, denn das verfluchte Blut des Tricksergottes verdammte sie, zwischen Leben und Tod zu hängen. Wobei das junge Mädchen sich nicht einmal sicher war, was genau der Unterschied zwischen den beiden sein sollte.
4
Denn die Toten waren ebenso rastlos wie die Lebenden. Ebenso von Ängsten und Gelüsten angetrieben. Davon sollte das Mädchen bald erneut Zeugin werden, denn am Horizont entdeckte sie einen Punkt. Sie hielt auf ihn zu, aber nicht wirklich aus Neugierde. Vielmehr, weil sie keine bestimmte Richtung im Auge hatte und hier auf der weißen Weite zumeist alles gleich aussahen. Warum also nicht jene einschlagen, die wenigstens so gütig war, ein kleines bisschen anders zu sein? Der Punkt kam näher und spaltete sich in mehrere auf. Aus dem ersten schälte sich eine junge Frau heraus, dem jungen Mädchen nicht einmal so unähnlich. Nur etwas älter. Und natürlich ragte ihr nicht das halbe Skelett heraus. Diese junge Frau trug ein simples aus Wolle gewebtes Kleid, wie es üblich für eine Bauersmagd gewesen war. Dass jenes Kleid von Schweiß durchnässt war und auf ihrem Gesicht die Glut eines schlimmen Fiebers loderte, verriet dem jungen Mädchen, das eine schwere Krankheit den Strohtod zu der jungen Frau geführt hatte.
5
„Bitte hilf mir!“, rief die Frau und warf sich vor dem jungen Mädchen auf den Boden, ihr Bein umklammernd. Aber nur für einen kurzen Moment, dann schrie sie auf und ließ wieder los. Die Frau hatte in ihrer Furcht das knöcherne Bein des jungen Mädchens ergriffen, welches vollgesogen war mit der Kälte der Weißen Weite. Der Schmerz hielt die Flehende aber nur kurz auf Abstand, dann ergriff sie das fleischliche Bein des jungen Mädchens. Welches nicht wirklich warm war, aber zumindest berührt werden konnte, ohne dass einem die Finger einfroren. „Sie wollen mich schänden!“, beklagte die Frau, glühende Tränen weinend. Wer mit sie gemeint war, wurde sogleich ersichtlich, denn die verbleibenden drei Punkten nahmen erkennbare Gestalt an. Das junge Mädchen erkannte auf einen Blick, dass diese drei Männer vor ihr das darstellten, was die Lebenden wohl ‚Abschaum‘ nennen würden. Denn die in ihre Leiber eingravierten Arten des Todes verrieten es ihr. Der eine, der wohl der Anführer der drei war, trug seinen eigenen Kopf unter dem Arm. Jenen dürfte er kaum in einer Schlacht verloren haben, denn dann wäre ihm ein Platz an der Tafel in Walhalla gewiss gewesen. Nein, entweder hatte man ihn für eine Gräueltat geköpft – oder jemand hatte ihm den Kopf abgeschlagen, als der Mann gerade eine solche begehen wollte. Eindeutig hingerichtet hatte man hingegen den zweiten, denn um seinen geschwollenen Hals hing beinahe schon höhnisch noch der Galgenstrick. Nur beim dritten war sich das junge Mädchen nicht sicher, woran er gestorben war, denn das einzige Auffällig, was sie sah, war sein Brustkorb, der seltsam in sich zusammengefallen wirkte, wie ein nasser Sack.
6
Der Funken Interesse, welcher im jungen Mädchen kurz umhersprang, erlosch rasch wieder und sie schüttelte die Frau von sich ab, um ihren ziellosen Streifzug durch die Weiße Weite fortzuführen. Mit einem Klageschrei versuchte die Frau sich erneut an ihr festzuklammern, doch das junge Mädchen trat mit ihrem Knochenbein aus, die junge Frau ein gutes Stück zurückwerfend. Diese blieb verängstigt im Schnee liegen und versuchte es nicht erneut, während die durch den Tritt verursachte Wunde an ihrer Schulter sich von Zauberhand schloss und ohne eine Narbe zu hinterlassen verschwand. Einen großen Bogen um die drei Männer schlagend wollte das Mädchen weiterziehen, doch man ließ sie nicht, denn der Mann mit dem Galgenstrick trat auf sie zu, dreckig lachend: „Noch eine weitere für uns. Gibt wohl doch noch irgendeinen Gott, der sich um uns schert?“ „Du solltest dich besser von dieser fernhalten“, meinte der Mann mit dem eingesackten Brustkorb nervös, worauf der Kopfhaltende höhnte: „Na, die ist schon halb verwest.“ Sein Tonfall verriet, dass er nicht merkte, dass der andere keine Bedenken oder Abscheu hatte. Dies entging auch dem Galgenstrick, denn der lachte nur: „Aber auch noch halb schön. Und wir alle hier sind ja etwas verwest.“ Er versuchte das junge Mädchen zu fassen zu bekommen, doch sie war schneller. Mit ihrer lebendigen Hand packte sie den Galgenstrick und zog ihn mit einem kräftigen Ruck zu sich, direkt in zwei ihren knöchernen Finger. Tief bohrten sie sich durch seine Augen in den Schädel hinein, sich wie eiserne Haken im Kopf festsetzend. Ihre Wucht erwies sich dem geschwollenen Hals zu viel und er riss, sodass das Haupt nach hinten kippte und den Rücken herabfiel, nur noch von einen Fetzen Fleisch gehalten, während der nun geköpfte Gehängte schrie.
7
„Du elende Hure!“, schrie der Kopfhaltende, während sein Freund zuerst umkippte und dann panisch von dem jungen Mädchen wegkroch, wobei sein Kopf umherbaumelte. Der Strick, der sich lösen konnte, folgte ihm wie eine Schlange durch den Schnee kriechend. Mit seiner freien Hand holte der Kopftragende zum Schlag aus, doch erneut erwies sich das junge Mädchen als die Flinkere. Sowie trotzt ihrer halb zierlichen, halb knöchernen Gestalt als die Stärkere, denn sie wich unter seinem Schlag aus und schlug ihn in die Brust, was ihn nach hinten taumeln ließ. Er kippte um und verlor dabei seinen Kopf, den das junge Mädchen am langen Haar packte. Um mit ihm sogleich, diesen wie einen Morgenstern schwingend, auf den nun Kopflosen einzudreschen, kaum hatte dieser sich wieder erhoben. Jedes Mal, wenn die Stirn des Mannes auf den Stumpf seines Halses knallte, stieß er einen furchtbaren Schrei aus, der die anderen beiden Männer zusammenzucken ließ. Erst als der Kopflose wieder zu Boden gegangen war und die Hände flehend und schützend hochhielt, stoppte das junge Mädchen. Ihr lebloser Blick glitt bedrohlich über die drei Männer hinweg zu der Frau, welche bereits wieder ein Punkt am Horizont war, denn sie hatte den Kampf genutzt, weiter zu fliehen. Einen Moment lang sah das Mädchen ihr nach. Dann drehte sie sich in die entgegengesetzte Richtung und holte mit dem Kopf in der Hand weit aus. „Nein!“, schrie der Kopf, begreifend, was sie vorhatte, während sein Leib verzweifelt zu ihr hin kroch. Ehe er aber mit seiner Hand ihr Bein berühren konnte, warf das Mädchen mit ungeheurer Kraft den Kopf dem Himmel entgegen. Wie ein Pfeil sauste der Kopf in den ewig trüben Himmel der Weißen Weite hinein und versank in seinem Grau.
8
„Das wird du noch bereuen!“, schrie der Mann mit der eingesackten Brust, während er mit dem Gehängten, um dessen Hals wieder der Strick baumelte, den Kopflosen stützte, der allein nur taumelnd seinem Kopf folgen konnte. Das junge Mädchen sah ihnen nach, wie sie dem Horizont folgten, der irgendwo in sich den Kopf versteckt hielt. Hierbei verspürte sie aber nichts: Keine Abscheu, keine Genugtuung. Allein der Rücken des Mannes konnte einen Funken Interesse wecken, denn nun sah sie, dass dieser geöffnet worden war. Wie blutrote Flügel ragten seine Schulterblätter heraus, umrahmt von den von der Wirbelsäule abgeschnittenen Rippen, die wie Zähne am Rand der Wunde hervorstachen. Kein Wunder, dass der Brustkorb so eingesackt aussah. Doch auch dieser Funken wurde vom kalten Weiß verschluckt und das junge Mädchen setzte ihren endlosen Fußmarsch in eine gleichgültige Richtung fort.
9
Nicht selten hatte das junge Mädchen solche Begegnungen. Manchmal musste sie sich erwehren, meisten aber schlugen die Toten einen Bogen um sie. Selten flehten die Toten sie um Hilfe an, doch sie missachtete sie. Denn sie scherte sich nicht um die Toten. So wie die Götter Asgard es taten. Dieselben Unsterblichen, die entsetzt über ihr halb verwestes Antlitz sie von sich weggestoßen hatten und letztendlich in einer Kammer tief unter Walhall einsperrten, wo nur ein einzelnes Licht ihr Trost spendete. Bis es endgültig erlosch. Das Mädchen wusste nicht mehr, wie sie aus dem Verlies entkommen war. Dies war eine Erinnerung, die die Weiße Weite ihr genommen hatte. Aber nicht geraubt, denn das Mädchen war willig, sie zu geben. So wie viele andere Erinnerungen. Denn wann immer sie sich an etwas entsann, wurde ihre Seele geschnitten. Deshalb gab sie der Weißen Weite alles im Austausch für eine Stumpfheit, die ihr nicht wehtun konnte, weil sie so leer war.

Der nächste Teil der Geschichte wird in zwei Wochen, am 16. Februar 2024, veröffentlicht.

Admin - 11:04:28 @ Mythen, nordische Kultur | Kommentar hinzufügen