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Blogpost aus Mora


2024-02-16

Das erfrorene Mädchen - Teil 2

1
Vermutlich wäre das Mädchen noch eine oder zwei Äonen weiter ziellos durch die Weiße Weite gezogen und hätte vielleicht zu einer der Vereisten werden können, jener Seelen, denen alles Menschliche vom ewigen Frost abgeschliffen worden war. Wäre da nicht der alte Mann gewesen. Anfangs war er ebenfalls nur ein Punkt gewesen, den das junge Mädchen am Horizont bemerkte, wenn sie eine andere beliebige Richtung einschlug. Sie schenkte ihm anfangs wie allem anderen keine Beachtung. Selbst als er näherkam, warf sie ihm nur einen kurzen, musternden Blick zu. Nichts an ihm wies auf eine Verletzung hin, weshalb er vermutlich nur ein gewöhnlicher alter Mann war, den der Strohtod ereilt hatte. Generell hätte sie ihn nicht beachtet, wenn er nicht angefangen hätte, zu reden. So endlos reden, wie die Weiße Weite ins Ewige reichte. Genervt hatte das junge Mädchen den alten Mann gepackt und ihn dem Horizont entgegengeworfen. Doch er kam wieder und sie warf ihn erneut. Immer wieder für eine oder zwei Äonen. Bis es dem jungen Mädchen leid wurde und sie den alten Mann duldete, mit den Zähnen knirschend und ihn über die Schulter immer wieder böse mit ihrer Augenhöhle anfunkelnd.
2
So brandete über ihr Ohr zusammen mit dem kalten Wind der Redeschwall des alten Mannes hinweg. Er redete über alles Mögliche: Über seine Kindheit auf dem Gehöft seines Vaters. Wie er als junger Mann seine Frau während der Feier des Julfestes in Nachbardorf kennenlernte. Von der Geburt seiner Söhne und Töchter. Und über alles Mögliche, wobei das junge Mädchen nur beiläufig zuhörte. Weil sie sich nicht scherte. Bis der alte Mann, nachdem er zum achten Mal die Geschichte erzählte, wie sein Sohn Olaf als kleiner Junge den Met gefunden hatte und anschließend den Zorn eines gesamten Bienenschwarmes auf sich zog, das junge Mädchen fragte, ob sie denn Familie hätte. Das stach sie, denn so blank ihre Erinnerungen auch geschliffen worden waren, etwas war geblieben: Die treue, liebende Hand ihrer Mutter, wie sie durch das Haar des jungen Mädchens strich und anschließend auch den Schädel liebkoste, ohne dass ein Unterschied spürbar war. Das gerissene Lächeln ihres Vaters, das er stets es auf dem Gesicht trug, wenn er ihr eine neue List beibrachte. Das weiche, dichte Fell ihres einen Bruders, in dem sie sich so leicht verlieren konnte. Der starke, aber auch sanfte Druck ihres anderen Bruders, mit der er seine Geschwisterliebe ausdrückte. Und die starken Hände ihrer beiden älteren Brüder, mit denen sie ihre kleine Schwester in die große weite Welt Midgards führten und sie ihr zeigten. Die Leere in dem jungen Mädchen fiel in sich zusammen und überließ den Platz dem Schmerz, der sich tief in ihre Seele schnitt. Jener Schmerz, den sie versuchte durch Gleichgültigkeit von sich fernzuhalten. Zum ersten Mal hörte der alte Mann das junge Mädchen schreien, vernahm ihre Stimme, von der er bislang nicht gewusst hatte, ob sie überhaupt einen Klang hatte. Als das junge Mädchen dann auf ihn zustürmte, sah er etwas anderes auf ihrem Gesicht als die endlose Gleichgültigkeit: Die lebendige Seite glühte, verzerrt von schmerzhaftem Zorn, während die knöcherne nicht mehr leblos starr war, sondern sich regte und brach, wie auftauendes Eis. Ehe der Alte noch etwas anderes sagen konnte, packte das junge Mädchen ihn eisern, hob ihn über ihren Kopf und warf ihn weit weg, dem Horizont entgegen.
3
Sich des Alten entledigt habend, setzte das junge Mädchen ihren endlosen Streifzug durch die Weiße Weite fort. Doch etwas war anders als zuvor. Der Schnee zwischen ihren Zehen begann sowohl das Fleisch als auch den Knochen zu stechen. Das trübe Grau des Himmels, zuvor ein stummer Beobachter, begann auf das Mädchen herabzusehen, sie mit seinen schweren Wolken bedrückend. Und der Horizont, sich auf ewig ihren Füßen entziehend, wirkte auf einmal so höhnisch. Die Vorstellung, auf ewig und ohne Ziel zu wandern, gewann auf einen Schlag Gewicht und legte sich auf ihre Schultern, sodass sie auf die Knie gezwungen wurde. Alte Erinnerungen, vor langer Zeit tief vergraben, brachen hervor und durchschlugen die Gleichgültigkeit. Bittere Tränen begannen zu fließen, auf der eine Seite das kalte Fleisch erwärmend, auf der anderen die Knochen vom Eis befreiend. So aus ganzer Seele weinend und von vergangenem Schmerz zerfressen werdend, hätte das junge Mädchen vermutlich eine oder zwei Äonen dort gekniet, hätte sich nicht bereits nach einer einzelnen, kleinen Ewigkeit eine Hand auf ihre Schulter gelegt.
4
Es war der Alte, der sich erneut durch Eis und Schnee gekämpft und ein paar Mal verlaufen hatte, um das junge Mädchen wiederzufinden. Welche es ihm dankte, indem sie vor ihm zurückschreckte und ihn anfauchte, zu wissen verlangend, warum er sie verfolgte. Mit der ruhigen Besonnenheit des Alters erklärte er, dass er wusste, dass das junge Mädchen weinen würde. Er kannte es schließlich gut genug von seinen eigenen Kindern: Erst das uneinsichtige Toben, dann das einsichtige Schmollen. Diese Erklärung erzürnte das junge Mädchen und sie ermahnte ihn und drohte ihm mit einem weiteren Wurf. Sie wanderte die Weiße Weite bereits Äonen, da war er sicher gerade erst geboren worden. Worauf der alte Mann nur plump fragte, ob sie denn in all dieser Ewigkeit etwas anderes getan hatte, als nur herumzuwandern. Ihr Schweigen war Antwort genug.
5
Dasselbe Spiel wie zuvor fand statt: Das junge Mädchen schritt durch den Schnee und der alte Mann folgte ihr, unentwegt über sein Leben redend, sich wiederholend, um die Ewigkeit auszufüllen. Anfangs antwortete das Mädchen nur mit der bisherigen Stille wie zuvor, doch dann begann sie auf einmal, Fragen zu stellen. Die allererste suchte nach dem Grund, warum der alte Mann denn nicht in Walhall war, wenn er, laut seiner eigenen Behauptung, ein Krieger gewesen war. Worauf der alte Mann den Kopf schüttelte, denn sein tägliches Brot hatte er sich als Bauer selbst erarbeitet. In seinen jüngeren Jahren zog er zwar aus, wenn sein König zum Kriegszug aufrief, um sein Verlangen nach Land und Reichtümer zu stillen. Doch jedes Mal kehrte der alte Mann heim, nicht immer unversehrt, aber am Leben. Da meinte das junge Mädchen, dass er damit wohl kein tapferer Krieger gewesen sein konnte, wenn er sich wie ein Wiesel dem Tod mehrmals aus den Fängen gewunden hatte. Der alte Mann hatte nichts zu verteidigen und gab freimütig zu, dass er allein sich danach gesehnt hatte, zu seiner Familie zurückzukehren, sobald er seine Pflicht gegenüber seinem Herrn abgeleistet hatte. Dann aber trübte sich seine Miene und er beklagte ungewöhnlich traurig, dass seinen beiden Söhnen dies leider nicht gelungen war und sie nun in Walhall hausten. Das Mädchen verspürte für einen kurzen Moment einen brennenden Stich im Herzen, bevor das gleichgültige Eis es verschluckte. Aber nicht, ohne einen Riss erleiden zu müssen.
6
Wieder verging eine kleine Ewigkeit, dann fragte das Mädchen auf einmal nach dem Namen des alten Mannes. Eine Frage, die sich fast von selbst gestellt hatte, und sie wollte diese schon wieder zurücknehmen. Doch da hatte der alte Mann ihr bereits verraten, dass man ihn Sven nannte. Sogleich fragte er nach ihrem Namen, doch das Mädchen blieb ihm einen schuldig, denn sie hatte keinen. Weshalb Sven es sich erlaubte, ihr einen zu geben: Hel. Ein Name so bizarr, dass das junge Mädchen nicht anders konnte, als zu wissen zu verlangen, warum er sie „verborgen“ nennen würde. Daraufhin erinnerte Sven sie daran, dass sie bislang nichts von sich erzählt hatte, ganz gleich wie sehr er grub. Das junge Mädchen sagte ihm, dass er graben konnte, bis die Weiße Weite auftaute, denn sie beabsichtigte, „verborgen“ zu bleiben. Hierbei nahm sie aber unausgesprochen den Namen an.

Der nächste Teil der Geschichte wird in zwei Wochen, am 01. März 2024, veröffentlicht.

Admin - 11:00:58 @ Mythen, nordische Kultur | Kommentar hinzufügen

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