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Blogpost aus Mora


2024-03-01

Das erfrorene Mädchen - Teil 3

1
Obwohl sie mehr oder weniger willig den Namen vereinnahmt hatte, so würde Hel sich bald alles andere als sich verbergend verhalten. Wie unzählige Male zuvor erblickte Hel Punkte am Horizont, die beim Näherkommen die Gestalt einer Gruppe Männer annahmen. Und einer Frau, die sie umzingelt hatten und brutal fassten. Eine furchtbare Szene, welche Hel zuvor oft gleichgültig zur Kenntnis genommen hatte und anschließend ignorierte, sofern die Schufte nicht auf die Idee kamen, auch sie anzugreifen. Doch diesmal regte sich ihr kaltes Herz, durchstochen von mehreren heißen Stichen. Aus den Löchern quoll beißende Wut, schmerzhaft ihr erfrorenes Inneres durchdringend. Doch die Gleichgültigkeit hielt eisig entgegen, ihr die Freiheit von jeglichem Schmerz versprechend. So stand Hel, tatenlos starrend, unfähig, sich einer der sich in ihr streitenden Seiten hinzugeben. Doch Sven hingegen kannte kein Halten und stürmte ohne Zögern auf die Männer zu, infrage stellend, ob er im Leben wirklich ein Feigling gewesen war. Doch gegen die Männer, denen man ansah, dass sie jung wegen Untaten hingerichtet worden waren, kam er nicht an und rasch lag er im Schnee, erbarmungslos niedergeschlagen. Allerdings glücklicherweise nur für eine Handvoll Momente, dann fiel Hel über die Männer her.
2
Jegliche Kälte war von ihrem Antlitz gewichen. Während ihr Auge die Männer mit Zorn durchstach, brannte in ihrer Augenhöhle ein goldenes Licht, entschlossen, nie wieder zu erlöschen. Ehe eine Abwehr erfolgen konnte, packte sie die aus dem Rücken ragenden Flügel, geformt aus den Schulterblättern und Rippen des einen Mannes, und riss sie aus, was den ganzen Leib in sich zusammenfallen ließ. Während die sich weit verteilt habenden Knochen wie verzweifelte Käfer zurück zu ihrem Herrn krochen, packte sie den gespaltenen Kopf des Nächsten, riss die feststeckende Axtschneide heraus, nur um dann ihre eigenen Finger tief hinein ins Gehirn zu rammen. Ihr monströses Gebaren, welches selbst die Furien des Hades erschreckt hätte, versetzten die restlichen Männer in Angst vor einem noch schlimmeren Schicksal als dem Tod. Sie flohen, doch einer von ihnen wurde von Hel gepackt und zu Boden geworfen, um anschließend seinen Kopf von ihrem knöchernen Fuß zerschmettert zu bekommen. Als der Schädel sich wieder zusammensetzte, trat sie erneut. Immer wieder. Solange, bis die Frau, welche Hel zur Rettung gekommen war, sich an ihre Hüfte warf und sie anflehte, innezuhalten, denn es sei genug.
3
Nachdem Hel innehielt und den Mann seinen Kameraden hinterherrennen ließ, brach sie zusammen und begann zu weinen, während die kleine Flamme in ihrer Augenhöhle flackerte. Die Frau, zwar erschüttert von dem Geschehen, aber auch dankbar, versuchte Hel zu trösten, doch diese schlug nur ihre Hand weg und klagte sie an. Hel fragte verzweifelt, warum man sie zwang, sich zu scheren. Die Gleichgültigkeit erlaubte es ihr, ihre Brüder zu vergessen. Das Scheren übergoss sie hingegen mit der ätzenden Sehnsucht nach ihrer Geschwisterliebe. Solange Hel kalt war, spielte es keine Rolle, dass die Götter Asgard sie wie einen räudigen Hund in die Weiße Weite warfen. Nun bohrte sich diese Untat wie ein Dolch in ihren Rücken. Und solange sie mit der Weißen Weite eins war, hielt sich das Schicksal der verlorenen Seelen fern. Nun quälte Hel gnadenlos das Wissen über all jene, die ziellos, zwecklos in diese endlose Eiswüste verbannt worden waren, nur weil sie im Leben die Aufmerksamkeit der Götter auf sich gezogen hatten. Und der Zorn über all diese Schufte, die selbst im Tod anderen das Leben zur Qual machten, raubte ihr jegliche Ruhe.
4
War aber dieser heiße Schmerz wirklich schlimmer als dies, was sie zuvor verspürt hatte? Hatte die kalte Gleichgültigkeit sie glücklich gemacht? Dies wollte Sven wissen, doch Hel erwiderte nur, dass Glück niemals ihr vergönnt sein würde. Ihr Schicksal und das ihrer Brüder war längst gesponnen, lange bevor sie geboren worden waren. Nicht nur die Götter, sondern die gesamte sich über alle Welten erstreckende Wirklichkeit, hatte entschieden, dass sie eine Gefahr darstellt. Zu fragen, ob sie glücklich sein könnte, war wie sich zu wundern, ob eine Krankheit dies sein könnte. Deshalb scherte sich niemand um Hel und sie sah keinen Grund, sich selbst um etwas zu scheren.
5
Der alte Mann sagte, dass er sich um Hel scheren würde. Sofort stimmte auch die junge Frau mit ein. Worauf Hel sie anbrüllte, ob man ihr überhaupt zugehört hatte: Sie war die Tochter Lokis! Teil seiner Brut! Dazu vorbestimmt, in Midgard mit einer Armee der Toten einzufallen und mit ihren Brüdern den Untergang von Gott- und Menschheit einzuläuten! Sie war ein grässliches Monster, ein halbtotes Ungeheuer!
6
Doch der alte Sven schüttelte nur den Kopf, denn dies war nicht, was er sah. Was er sah, war ein armes, trotz ihrer sich in die Ewigkeit erstreckenden Jahre junges Mädchen, welches man hier ganz allein in dieser Weißen Weite im Stich gelassen hatte. Ein Mädchen, welches ihn an seine eigenen Töchter erinnerte. Was auch den simplen Grund darstellte, warum er ihr gefolgt war und ihr Gesellschaft geleistet hatte. Die Frau, die sich rasch als Helga vorstellte, hingegen gestand ein, dass ihr Hels skelettierte Seite unheimlich erschien. Doch sonst kann sie nur ihre Retterin sehen, nicht irgendein Ungeheuer, das angeblich eines Tages das Ende der Welten verursachen soll. Hel wusste nicht, was sie erwidern sollte oder konnte. Doch ihre Arme taten es und ehe sie sich selbst versah, hatte sie Sven und Helga umarmt und ließ sich von ihrer Wärme lehren, dass es mehr gab als die kalte Leere der Weißen Weite.
7
Von nun da war Hel nicht mehr einfach das junge Mädchen, welches von jemandem gefolgt wurde. Stattdessen wurde sie Teil einer Gefolgschaft, der immer mehr sich verlorene Seelen anschlossen, denn selbst in der erdrückenden Endlosigkeit der Weißen Weite war jeder Mund seinen Brüdern nahe. Manche folgten Hel, um sicher vor den bösartigen Seelen zu sein. Andere sehnten sich einfach nach Gesellschaft. Und einige folgten einfach dem zutiefst menschlichen Instinkt, sich um ein Symbol, eine Anführerin zu scharen. Hel wurde jedes Mal, wenn sie über ihre Schulter blickte, davon überrascht, dass schon wieder ein weiteres Grüppchen an verlorenen Seelen sich an ihre Fersen geheftet hatte. Und davon, wie sehr anders die Menschen waren, wenn sie statt allein und getrennt zusammen waren. Ihr Plaudern, Lachen und Singen war so laut, dass Hel zum ersten Mal nicht den schneidenden Wind hören konnte. Zudem erwies es sich als erstaunlich, wie die Gesellschaft vieler Menschen Mutlosigkeit und Antrieblosigkeit vertrieb, denn Hels Gefolgschaft begann sich zu fragen, ob man nicht etwas anderes tun könnte, als nur zwecklos durch die Weiße Weite zu wandern. Worauf andere fragten, was anderes man denn tun könnte, denn es gab nichts hier. Nichts, was man erreichen könnte, nichts, was man finden könnte und auch nichts, was man vereinnahmen könnte. Worauf die Idee, eine Stadt zu errichten, erblühte und mit ihren Wurzeln um sich griff. Ein Ort, den man Heimat nennen konnte und der als Zuflucht dienen konnte. Dies zerrte dann aber die Frage herbei, womit man diese Stadt errichten sollte. Auf der Weißen Weite gab es nur Eis und Schnee, niemand hatte auch nur einen einzelnen Grashalm, geschweigen einen ganzen Baum gesehen. Vielleicht konnte man Stein unter dem festen Frost finden, doch man hatte keine Werkezuge, um diesen zu durchschlagen, noch um die eventuell gefundenen Materialien anschließend zurechtzuhauen.

Der nächste Teil der Geschichte wird in zwei Wochen, am 15. März 2024, veröffentlicht.

Admin - 13:05:57 @ Mythen, nordische Kultur | Kommentar hinzufügen