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Blogpost aus Mora


2024-04-26

Das erfrorene Mädchen - Teil 7

1
Hel fiel es nämlich immer schwerer, das zu glauben. Trotzdem ließ sie ihren Vater darlegen, wie er ihr „geholfen“ hatte. Überraschenderweise gestand Loki, dass in ihrem Fall nicht er, sondern Balder es gewesen war, der das Schicksal in seinem Fluss umgelenkt hatte. Denn es war seine Barmherzigkeit, die Hel zu der Hüterin der Toten werden ließ. Ihr das Feuer gab, welches sie um die Toten und damit auch indirekt um die Lebenden scheren ließ. Es war auch seine barmherzige Flamme, die in Hels Augenhöhle brannte. Dies rührte Hel für einen Moment, bevor die Wut wieder übernahm, denn es warf die Frage auf, warum Loki dann, wenn wohl auch er Balder zu danken hatte, ihn umgebracht hatte. Wieder mutete die Antwort unglaublich an: Weil nur Balders Tod Hel den Weg in die Weiße Weite öffnen konnte. Wie die Sterblichen mussten auch die Götter nach ihrem Tod in die Weiße Weite einkehren, doch selbst im Sterben war ihre Macht und damit ihre Selbstbestimmung enorm. Als ein Wesen, dass zwischen Leben und Tod stand, konnte Hel in den Welten der Lebenden und in der Weißen Weite verweilen, doch dies nützte ihr nichts, als sie in Gefangenschaft war. Jemand musste sie befreien, mitnehmen. Und dieser jemand war Balder gewesen, dessen Seele beim Anritt zur letzten Reise Hel mit sich zog. Für Loki kam Balder zudem als der Einzige dafür infrage, weil er so rein war in seiner Barmherzigkeit. So rein, dass sie jeden Zweifel, jede Furcht, die er gegenüber Hel hatte, hinwegfegen würde. Dass machte ihn, wie Loki es trocken zusammenfasste, äußert berechenbar. Sein Tod garantierte Hels Übergang. Mit Thor zum Beispiel hätte es nicht funktioniert, denn selbst wenn der Gott des Donners warum auch immer Hel wohlgesonnen wäre, sein Tod hätte nicht das gleiche bewirkt. Denn er war kein rein mutiger Krieger, denn er wurde auch von seinem Jähzorn und seiner Loyalität gegenüber seinem Vater Odin geführt. Dies machte ihn unberechenbar und so oft wie er auf Lokis Listen auch hereingefallen war, so oft hatte er sie auch einfach dadurch durchkreuzt, in dem er etwas anderes machte, als der Trickser erwartete. Dasselbe konnte Loki über alle Götter sagen, denn natürlich hatte er damit gerechnet, dass sie Balders Tod rächen wollten. Womit er aber nicht gerechnet hatte, war, dass sie ihn nicht nur finden würden, sondern auch seine beide älteren Söhne zerstückeln würden, um aus ihren Gedärmen Ketten zu schmieden. Deshalb entschuldigte sich Loki auch bei Narfi und Ali, welche die Entschuldigung annahmen, wenn auch kalt, denn sie hatten den Verdacht, dass ihr Vater es auch in Kauf genommen hätte, wenn er es vorausgeahnt hatte. Hel hingegen musste ihre halben Lippen zusammenpressen, denn so sehr sie es auch hasste, in diesem Punkt musste sie ihrem Vater Recht geben: Balder war berechenbar. Weniger lieb ausgedrückt, er war etwas einfältig. Doch diese Einfältigkeit war es, die ihn so liebenswürdig machte.
2
Nachdem Loki seine Beweggründe dargelegt hatte, forderte Hel zu wissen, in welche Trickserei er sie hineinziehen wollte. Denn sicher war dies der Grund, warum er sich nach so langer Zeit bei ihr blicken ließ. Loki fackelte nicht lange und legte seiner Tochter seinen Plan dar. Es war ein überraschender. Sogar ein guter, von den man denken könnte, dass er mit hehrer Absicht gesponnen wurde – würde er nicht vom Tricksergott stammen. Doch trotzdem konnte Hel den Plan nicht einfach so ablehnen. Sie war zerrissen, weshalb sie ihren Vater fragte, ob er wirklich glaubte, dass er das Schicksal austricksen könnte. Er zuckte mit den Schultern, denn er wusste es nicht. Doch wenn jemand es konnte, dann er. Nicht wirklich eine vertrauenerweckende Antwort und Hel wusste nicht, was sie tun sollte. Doch ihr Bruder Ali hatte einen Rat: Sie sollte nicht darauf vertrauen, dass sie ihren Vater durchschauen konnte. Vielleicht wollte er sie mit diesem Plan hinter Licht führen. Ebenso konnte es aber auch sein, dass er damit rechnete, dass sie ihn ablehnte. Oder der Plan war sowieso nur eine Ablenkung für etwas anderes. Bei Loki konnte man es nie wissen. Deshalb riet er ihr, einfach das zu tun, was ihr Instinkt ihr sagte. Dies webte Hel sich auch in die Seele und nach einigem Überlegen, stimmte sie dem Plan ihres Vaters zu. Aber nicht, ohne sich von ihrem Thron zu erheben und ihn mit ihrer knöchernen Hand an der Kehle zu packen. Sie drohte ihm, dass, wenn sein Plan sich am Ende als schädlich für ihre Schützlinge oder für ihre Geschwister erwies, dann würde sie ihn Nifhöggr zum Fraß vorwerfen. Ganz gleich, wie viele Schicksalsfäden sie dafür durchtrennen musste. Auch würde sie in Kauf nehmen, dass sie den Drachen mit einem verdorbenen Magen erzürnte.
3
Nachdem Loki sich über die Drohung seiner Tochter amüsiert hatte, verschwand er wieder und Hel rief Hermod zu sich. Sie unterbreitete ihm eine Herausforderung: Einen Toten zurück in die Welt der Lebenden zu entlassen, selbst wenn es um einen Gott ging, verstieß gegen die natürliche Ordnung. Sollte es die Götter Asgards ihr beweisen können, dass alle Wesen in allen Welten Balder nachweinten, dann wäre Hel bereit, den barmherzigen Gott wiederzubeleben. Als Beweis solle man ihr die Tränen bringen. Kaum hatte Hermod diese Worte vernommen, trug er sie sogleich zurück nach Asgard und unverzüglich entsandte Odin Boten in alle Ecken aller Welten, Tränen zu sammeln. Dies gelang ihnen auch, denn wahrhaftig trauerten vielen Wesen mit einer Seele dem reinen Gott nach. Selbst die Eisriesen, die Todfeinde der Götter Asgards, konnten nicht anders, als frostige Tränen zu vergießen. Sogar Loki konnte sich diesem Geben nicht entziehen, auch wenn bezweifelt werden konnte, ob diese Tränen wirklich pure Trauer waren. Thor selbst war ausgezogen, um den Tricksergott zum Weinen zu bringen, und die anderen Götter mutmaßten, dass er mit Loki einen Handel vereinbarte. Oder ob er einfach die Tränen freihämmerte. Wie auch immer der Gott des Donners diese Tränen bekam, sie bereiteten Odin Sorgen. Denn er ahnte, dass Hel so listig wie ihr Vater war und hinter der Herausforderung eine Falle lag. Deshalb befürchtete er, dass die Herrin der Weißen Weite die Fragwürdigkeit dieser Tränen ausnutzen könnte, um die Herausforderung als unerfüllt zu deklarieren. Er beschloss, höchstpersönlich zusammen mit Hermod den riesigen Kessel mit den Tränen nach Helheim zu tragen, auf dass er mithilfe seiner Weisheit Hels List durchkreuzen und seinen Sohn Balder zurückholen konnte.
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Die Vorahnung des Göttervaters schien sich zu bestätigen, denn als sie in den Hof von Hels Eisfestung kam, teilte ihm Hermod mit, dass dieser gewaltige Springbrunnen, aus geschliffenen Eis zusammengesetzt, letztes Mal noch nicht hier gewesen war. Sehr verdächtig, vor allem weil auf der Weißen Weite kein flüssiges Wasser existieren konnte. Odin musste extra einen verzauberten Kessel von den Zwergen anfertigen lassen, damit die Tränen nicht zu Eis erstarrten. Als sie letztendlich den Kessel vor Hel brachten und diese die Tränen begutachtete, hatte sie tatsächlich etwas an diesen auszusetzen. Doch ihr Einwand hatte nichts mit den Tränen ihres Vaters zu tun. Stattdessen zog sie scheinbar vollkommen gewöhnliche Tränen aus dem Kessel heraus. Es waren die eines gewöhnlichen Bauers und tatsächlich waren sie Balder gewidmet. Zumindest zu einem kleinen Teil, denn als Hel sie teilte, stellte sich heraus, dass der Großteil seiner Tränen, seiner Trauer seiner Ehefrau gewidmet war, die im Kindsbett verstarb. Dasselbe kam auch bei der Teilung der nächsten Tränen heraus, denn diese gehörte einer Mutter, die zwar durchaus Balder nachtrauerte, doch die meisten ihrer Gedanken waren ihrem Sohn gewidmet, einem Seefahrer, der in der See ertrank. Bevor alle guten Dinge drei sein konnten, unterbrach Odin sie, denn er hatte solche Wortschindereien erwartet. Er wies Hel darauf, dass es nie die Rede davon war, dass die Tränen allein Balder gewidmet sein mussten. Worauf Hel erwiderte, inwiefern dass dann auf diese Träne zutraf. Diesmal war es die eines kleinen Jungen, der seinen Großvater vermisste. Oder was wäre mit diesen Tränen, die von einem Mädchen waren, das ihre Katze vermisste? Tatsächlich waren viele Tränen in dem Kessel, die überhaupt nicht Balder gewidmet waren und sie kamen von den Kindern. Odin versuchte zu argumentieren, dass diese zu jung und zu töricht waren, um die reine Barmherzigkeit Balders zu begreifen. Doch diesmal konnte er Hels Wortschinderei nicht umgehen, denn nun warf sie zu Recht ein, dass von allen Wesen und nicht von allen untörichten Wesen die Rede gewesen war. Und dass dies Odin wusste, weshalb er versuchte, die Tränen der Kinder unter allen anderen zu verstecken.
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So wie die Götter Asgards es immer getan hatten. Für sie stellten die Sterblichen nicht mehr als putzige Haustiere dar. Und während der edelsten Hunde, die in der Schlacht gefallenen Krieger, nach Walhalla geholt wurden, ließ man den Rest in der Weißen Weite vereisen. Odin ließ die harschen Worte Hels an sich zerschellen wie Wellen an Klippen und fragte sie schlicht, was sie wollte. Es war das Stichwort, auf welche sie gewartet hatte, und sie erwiderte, dass sie Gerechtigkeit haben wollte. Wenn einem Toten es gestattet werden sollte, ins Leben heimzukehren, dann sollten es alle Toten dürfen. Dies ließ Odins Auge ungläubig schimmern und er wies Hel daraufhin, dass sie selbst feststellte, dass schon eine Wiederbelebung allein einen Bruch der natürlichen Ordnung darstellte. Und nun wollte sie plötzlich jede einzelne Seele in der Weißen Weite zurück ins Leben kehren lassen? Dies würde alle Welten auf den Kopf stellen und den Baum des Lebens entwurzeln. Dies bestritt Hel auch nicht. Deshalb schwebte ihr auch ein weniger radikaler Ansatz vor. Anstatt wiederbelebt zu werden, soll den Toten vielmehr gestattet sein, für eine kurze Zeit die Welten der Lebenden zu besuchen. Somit könnte sowohl ein Gott wie Balder nach Asgard als auch ein gewöhnlicher Mensch zu seiner Familie in einem einfachen Haus heimkehren.
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Ab diesen Zeitpunkt wusste Odin, dass er es mit einen weiteren Ränkespiel Lokis zu tun hatte. Eine weitere Falle, um eines dessen Drillingskinder in eine machtvolle Position zu bringen. Und wie die beiden Male zuvor hatte der Tricksergott einen seine geliebten Söhne als Köder ausgeworfen. Diesmal war es aber besonders perfide, denn die Midgardschlange und der Fenriswolf hatten die gefürchtete Macht, mit der sie eine Abmachung erpressten, selbst erlangt. Doch ihre Schwester nun wollte, dass die Götter Asgards ihr genau das gaben, womit sie ihre Rolle in der Prophezeiung erfüllen konnte. Es war offensichtlich, dass sie diesen verlangten Zugang zu der Welt der Lebenden dazu ausnutzen konnte, die Armee an toten Soldaten nach Midgard zu führen, mit der sie gegen die Götter antreten würde. Daran hatte Odin keinen Zweifel. Doch das Schicksal war gewoben worden. Selbst wenn er sich weigerte, Hel würden einen anderen Weg nach Midgard finden. Wenn er hingegen zustimmte, würde er zumindest seinen Sohn Balder wieder an seiner Seite haben können, wenn auch nur jeweils für eine kurze Zeit. Deshalb erklärte er sich bereit, eine weitere, dritte Abmachung auszuhandeln.
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Als nach langem, auszehrendem Debattieren beide Seiten mit den Bedingungen des Vertrages halbwegs zufrieden waren, forderte Hel Odin und Hermod dazu auf, den Kessel hinauf auf den Hof zu tragen, auf dass die Tränen in den Springbrunnen gegossen werden konnten. Zu dampfen und zu brodeln begannen die Tränen und sie hätten sicher den Brunnen gesprengt, wenn er aus anderem Eis als jenem der Weißen Weite gehauen gewesen wäre. So aber bildeten sie ein Portal, einen Schnitt zwischen den Welten. Hel ließ Balder und seine Frau Nanna rufen und wies sie an, sich zu entkleiden und hinein in die Tränen der Lebenden fallen zu lassen.
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So kehrte der barmherzige Gott in Asgard heim und sein Kommen wurde von allen Göttern mit einem unvergleichbaren Fest gefeiert, welchem aber Balder nur zu einem Teil beiwohnen konnte. Denn bevor er zurück nach Hel heimkehren musste, wandelte er mit seiner Frau unter den Menschen. Er erklärte ihnen, dass ihre Tränen von nun an den Toten den Pfad zurück ins Leben zeigen konnten, sodass die Ahnen sie besuchen, sie trösten und sie beraten konnten. So vielen weisen Männer und Frauen wie möglich lehrte er die neuen Rituale und diese wurden die ersten Ahnenrufer und -ruferinnen. Seitdem können sich die Ahnen mit Hels Erlaubnis in den Tränenbrunnen fallen lassen und als Geister für eine kurze Zeit heimkehren, wo ihre Familien sie erwarteten und verehrten. Damit nahm auch Hel eine Position unter den Göttern ein und wurde von den Menschen nahezu ebenso sehr, vielleicht sogar ein bisschen mehr verehrt als die Götter Asgards. Welche dies mit Unbehagen sahen, denn Ragnarök nahte. Und auch Hel wunderte sich, ob ihr Vater wirklich das Schicksal austricksen konnte.

Damit findet diese Geschichte ihr Ende. In zwei Wochen geht es am 10.05.2024 weiter mit einer Mythen-Interpretation.

Admin - 10:15:21 @ Mythen, nordische Kultur | Kommentar hinzufügen