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Blogpost aus Mora


2024-05-24

Eine kleine Interpretation der Mythen über die Kinder Lokis - Teil 2

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Interpretation des Hiti-Mythos
Zentraler Wert
Im Mittelpunkt der heute populären Variante der Geschichte über Hiti, die Midgard-Schlange, steht der Wert der Gemeinschaft und die Freiheit, welche sie bringt. Dies mag für so manchen widersprüchlich erscheinen, denn gerade der jüngere Leser mag die Gemeinschaft um sich herum als etwas empfinden, was ihn durch Erwartungen und Forderungen in seiner Freiheit einschränkt. Dies ist auch nicht etwas, was ich hier in Abrede stellen will, vor allem da ich noch dafür argumentieren werde, dass die Mythen über die Kinder Lokis auch eine Rebellion gegen alte Traditionen versinnbildlichen. Trotzdem stellt die Gemeinschaft etwas dar, welches den einzelnen Menschen erst Freiheit gibt.
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Dies wird stark mit Hitis ursprünglichem Schicksal verdeutlich: Verstoßen von den Göttern Asgards und ins Meer geworfen, fristet er allein am Grund der See. Obwohl er eine riesenhafte Kreatur, die allergrößte sogar, darstellt und mit der Kraft seines Körpers Midgard zerstören könnte, so wie das Schicksal wob, reicht seine Macht nicht, um die Einsamkeit zu zerschmettern. Dies gelang nur den kleinen Tieflingen, die an seine Seite geschwommen kamen und mit ihm eine Gemeinschaft gründeten. Natürlich erwies sich diese Gemeinschaft als ein sehr praktisches Bündnis – er beschützte sie vor den Ungeheuern der Tiefe und sie belustigten ihn dafür –, doch die Verbundenheit wird in dem Mythos eindeutig als das Wichtigste hervorgehoben.
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Wenn man diese Verbundenheit sowie das gemeinschaftliche Leben mit den Tieflingen seitens Hiti mit dem Gebaren der Götter Asgards gegenüber den Sterblichen vergleicht, so tut sich ein entscheidender Unterschied auf: Hiti, eine gewaltige Meerschlange, ist den Sterblichen näher, als die Götter in Menschengestalt. Wie die Mitglieder vieler Pantheons fristen die Götter Asgards ihr generelles Dasein an einem entrückten Ort in Form von Asgard, so wie unter anderem die hellenischen Götter ihren Sitz auf dem Olymp haben. Ab und zu steigen sie herab, um mit den Sterblichen zu interagieren, wenn diese ihren Zorn oder ihr Wohlwollen auf sich gezogen hatten. Nur wenigen Sterblichen hingegen ist es vergönnt, diese entrückten Orte überhaupt zu betreten, wie eben die Krieger, die in Walheim einkehren dürfen, nachdem sie in der Schlacht gefallen und von den Walküren erhoben wurden.
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Ich bin mir durchaus bewusst, dass man diese Interpretation hinterfragen kann, da die Tieflinge, soweit man auf Basis der Mythen urteilen kann, keine Menschen, sondern vielmehr ein mythisches Volk wie die Elfen oder Zwergen darstellen, für deren Existenz es keine historische Beweislage gibt. Damit wären die Tieflinge als Wesen aus Legenden den Göttern näher als den Menschen. Doch dem würde ich entgegenhalten, dass die Tieflinge zumindest in der heutigen Variation des Mythos über sie, sich wie wir Menschen im stetigen Überlebenskampf mit ihrer Umgebung befinden und erst mit Hitis Hilfe sich mühsam ein sicheres Dasein erarbeiten konnten.
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Zusammengefasst ist der zentrale Wert des Hiti-Mythos der der Freiheit durch Gemeinschaft, über der der Mächtigste nicht übergestellt ist, sondern stattdessen, anders als die herkömmlichen Götter, ein Teil dieser darstellt. Eben jene Freiheit stellte letztendlich das entscheidende Mittel dar, mit dem Hiti sein eigenes Schicksal umweben konnte.
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Die wichtigsten Unterschiede zu dem alten Mythos
Bei der Schlange im Meer stellt hier natürlich der Umstand dar, dass es vor der späten Ritterzeit sowie dem Beginn des Zeitalters des Erwachens es keinen komplexen Mythos über Hiti gegeben hatte, auch wenn viele der einzelnen Elemente bereits existierten. Auch wenn die Midgardschlange eine entscheidende Rolle im Ragnarök-Mythos, einen der wichtigsten im nordischen Glauben überhaupt, einnimmt, so ist ihre Präsenz eher eine ergänzende. Zum Beispiel, um Thors Wagemut aufzuzeigen. Oder um die Verkommenheit ihres Vaters Loki zur Schau zu stellen. Doch die gewaltige Schlange selbst, eben jene Schlange, die ganz Midgard mit ihrem Körper umschlingt, hatte keinen eigenen Mythos, ja nicht einmal einen Namen bis zum Beginn des Zeitalters des Erwachens.*1
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Dies könnte sich damit erklären lassen, dass in den ursprünglicheren, vormodernen Variationen die Midgardschlange mehr als eine Verkörperung der gestürmten Natur sowie der Unausweichlichkeit des Schicksals darstellt. Die Zerstörung der Welten in Ragnarök wurde, zumindest von all jenen, die glaubten, der Untergang käme noch, vom Schicksal vorbestimmt und nicht einmal die Götter konnten etwas daran ändern. Eines Tages würde die Midgardschlange aus dem Meer kommen und das Land vergiften, bevor sie und Thor sich in ihrem letzten Kampf gegenseitig töteten. Sterbliche konnten erst recht nichts gegen die Midgard-Schlange ausrichten, nur ihr jetziges und zukünftiges Wüten akzeptieren, so wie unsere Vorfahren die Launen der Natur in Form von Stürmen und Fluten akzeptieren mussten.
Von daher könnte auch das von mir selbst in diesem Essay angewandten Sprichwort „auf die Schlange im Meer zukommen“ stammen. Auch wenn seine heutige Anwendung vielfältiger als zuvor ist, so drückte es ursprünglich aus, dass jemand ein Problem anspricht, welches es nicht wert ist, diskutiert zu werden, da man sowieso nichts dagegen machen kann.*2
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Das Aufkommen des Hiti-Mythos kommt damit also mit einer Verschiebung im religiösen Verständnis daher, bei der die unpersönliche Verkörperung der unausweichlichen, natürlichen Ordnung sich zu einer Person wandelte, die, wenn auch etwas widerwillig, gegen das Schicksal rebellierte. Dies ist entscheidend für einen weiteren Unterschied gegenüber den alten Varianten des nordischen Mythos: Die Rolle der Tieflinge und vor allem die jener, denen man eine Abstammung von ihnen nachsagt: die Meermenschen. Wie alle Hybridmenschen waren auch die Meermenschen in der Zeit vor der Allianz verschiedenen Graden an Diskriminierungen ausgesetzt und wie im Fall vieler anderen Hybridmenschenarten wurde diese Diskriminierung durch die Herstellung einer Verbindung zu mythischen Wesen mit einer vermeintlichen Abstammung gerechtfertigt. In den älteren Mythen wurden die Tieflingen als bösartige Kreaturen der See angesehen, die dem Menschen nur Ungutes wollten und aus der Tiefe kommend, erbarmungslos unvorsichtige Seefahrer heimsuchten. Oder nachts an die Küste krochen, um junge Maiden zu rauben und zu schänden, hierbei die Meermenschen als „abscheuliche Mischwesen“ zu zeugen. Etwas, was in älteren bildlichen Darstellungen aus der Antike sowie der Ritterzeit dadurch zum Ausdruck kam, dass man die Tieflinge mehr fischartiger als menschlich darstellte.*3  Damit drückte man vermutlich die animalische Herkunft aus, welche man vielen Hybridmenschen nachsagte und auf Basis dieser jene unter die gewöhnlichen Menschen herabsetzte.
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Erst nach der Gründung der Allianz wandelte sich das Bild der Tieflinge, und zwar im wortwörtlichen Sinne, denn die bis heute populäre Darstellung setzte sich durch, in der die Tieflinge sich von den Meermenschen nur noch durch wenige Merkmale, wie zum Beispiel das Vorhandensein von Kiemen, unterschieden, also deutlich menschlicher sind als zuvor. Dies ging mit dem Wandel im Denken bezüglich des Umganges mit den Hybridmenschen beziehungsweise dem generellen Umgang mit Minderheiten ein. Denn viele Mythen und Legenden, die einst als religiöse Grundlage für Diskriminierungen dienten, wurden mit dem Beginn des Zeitalters des Erwachens uminterpretiert. Im Falle der Tieflinge geschah es mit der Verknüpfung des aufkommenden Hiti-Mythos, sodass sie die Rolle von Ungeheuern gegen die der treuen Sterblichen tauschten, die einem misshandelten Gott beistanden.

*1 vgl. Lückmarck, 412, Wie die Schlange ihren Namen fand, S. 20f.
*2 vgl. Lückmarck, 412, Wie die Schlange ihren Namen fand, S. 45ff.
*3 Ein sehr anschauliches Beispiel ist der Runenstein von Beck, der von König Kniva der sechste Trinker dem Meeresgott Manannan zur Ehre und als Dank für die Rettung vor einen Sturm errichtet. Auf der Abbildung kann man das Schiff des Königs sehen, wie es von Manannans magischem Boot Sguaba Tuinne aus den Fängen von unten herkommender Tieflingen weggeführt wird.

Der nächste Teil der Interpretation wird in zwei Wochen, am 07. Juni 2024, veröffentlicht.

Admin - 12:01:49 @ Mythen, nordische Kultur, hellenische Kultur | Kommentar hinzufügen

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