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Blogpost aus Mora


2024-07-19

Eine kleine Interpretation der Mythen über die Kinder Lokis - Teil 6

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Schon die in dieser tulmulten Zeit lebenden Bewohner des Großreiches, zumindest jene, die auf die Schlange im Meer zu deuten wussten, erkannten, dass ein Zerfall kommen würde. Trotzdem dürfte es für jeden, vom einfachen Bürger hin zu dem Großkönig selbst, überrascht haben, dass der Zerfall nicht von einer Invasion von außen erfolgte oder von einer Revolte in einer d er Provinzen losgetreten wurde. Sondern von einem Umsturz im Herz des Hellenischen Großreiches, in dessen Kernlanden. Denn auch wenn das Hellenische Großreich auf die Überlegenheit der eigenen Kultur pochte, so musste es aber auch tolerant zu anderen Kulturen sein, um sich deren Untergebenheit zu sichern. So flossen aus den Kernlanden nicht nur ihre Werte und Ideen heraus, mit fremdartigen Göttern und Weltanschauungen flossen auch neue Ansichten und Leitbilder in es hinein. Mit jeder Generation rückte der Horizont der Hellenen weiter und umfassender, genug Platz für einen entscheidenden Gedanken schaffend: Sind unsere Traditionen wirklich gerecht? Auch wenn das Hellenische Großreich wie jede politische Einheit sich an die wandelnden Anforderungen seiner Existenz anpassen musste*1, so hielt es andererseits eisern an traditionellen Konzepten fest. Hierbei handelt es sich um zu viele Konzepte, um sie alle hier zu erläutern, weshalb ich mich auf jenes beschränke, dessen Infragestellung für die Uminterpretation zu der Stellung Artemis’ im Epios-Mythos wichtig ist.
Hierbei handelt es sich um die Misogynie, die in den Hellenischen Kernlanden mindestens seit der Antike*2 vorherrschte und bis spät in die Ritterzeit hinein Bestand hatte. Frauen galten als den Mannen körperlich und geistig unterlegen, weshalb man ihnen in der Zeit der Poleis wie Sklaven und Fremden die Bürgerrechte verwehrte, womit sie weder ein Stimmrecht noch den Zugang zu politischen Ämtern hatten. Generell wurde ihr Leben zuerst von ihren Vätern und Brüdern, später von ihren Ehemännern und Söhne bestimmt und dies galt sowohl für die Frauen hoher als auch niedriger Kreise, ihnen allen war kein eigener Besitz und kein Selbstbestimmungsrecht vergönnt. Diese Ungleichheit hatte, trotzt verschiedener Veränderungen in den Gesetzen, im Hellenischen Großreich Bestand, wurde aber mit der zunehmenden Größe des Reiches immer mehr angegriffen. Das ist natürlich simpel dem Umstand geschuldet, dass mit jeder neuen Generation neue Ideen aufkommen und im Falle des Hellenischen Großreiches wurde dies weiter mit dem bereits erwähnten zwangsläufigen kulturellen Austausch zwischen den Kernlanden und den Provinzen verstärkt. Die Idee, dass Frauen den Mannen nicht untergeordnet sein mussten, kam mit diesem Austausch, denn viele der unterworfenen Kulturen waren – auch wenn sie nach heutigen Maßstäben immer noch als sexistisch gelten würden – in der Beziehung der Geschlechter gerechter, indem sie Frauen Besitz und politische Ämter gewährten. Zwar versuchte man in der Anfangszeit des Großreiches durch die Hellenisierung die Ordnung des Großreiches anderen Kulturen überzustülpen, doch ab der frühen Ritterzeit mussten immer mehr die örtlichen Begebenheiten der weiter entfernten Länder toleriert werden, um die Flammen der Revolte nicht zu sehr anzufachen. Dies hatte unteranderem zur Folge, dass die in die Kernlanden kommenden Abgesandten, Könige und Politiker aus den Provinzen nicht nur ihre entschlossene, für sich selbst denkenden Frauen mitbrachten, sondern zum Teil selbst dem weiblichen Geschlecht angehörten. Dies ermutigte nach und nach die hellenischen Frauen, ihre eigene eingeschränkte Position zu hinterfragen.*3
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Diese ersten feministischen Bestrebungen richteten sich auch gegen die gängigen religiösen Vorstellungen der Zeit und versuchten sich wie die anderen gesellschaftlichen Bewegungen im Vorspiel des Prometheus-Krieges durch eine Uminterpretation gängiger Mythen zu rechtfertigen. Das bekannteste Beispiel ist natürlich die neue Variante des Prometheus-Mythos, der den Kern des neuen Kanons bildete und in dem Prometheus und Athene sowie ihre gemeinsame Tochter Faskane den Göttervater Zeus und den Olymp im Ganzen als die Beschützer der Sterblichen ablösten. Der Umstand, dass es Athena gewesen war, die dem von Prometheus aus Lehm geformten Leib des Menschen den Verstand einhauchte, und ihre sowie ihrer Tochter Position diente den Urfeministen als religiöse Motivation im Kampf um Gleichberechtigung.
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Auch andere Göttinnen des hellenischen Pantheons wurde unter feministischen Gesichtspunkten in ihrer Rolle und Position neu evaluiert. Wobei im Urfeminismus wie in jeder Bewegung verschiedene Strömungen mit zum Teil sich widersprechenden Ansichten gab. Dies kann am Beispiel von Artemis im Epios-Mythos gesehen werden. Als der Mythos anfangs des Zeitalters des Erwachens zuerst in Ländern in Mittelmora wie Wendel und Kiralik – Orte, wo die hellenische Kultur mit der nordischen Kultur zusammentraf und diese sich vermengten – an Beliebtheit gewann und anschließend in den südlichen Raum gelangte, waren Anhänger des alten hellenischen Kanons wenig begeistert. Zum einen natürlich, weil der Mythos es wagte, eine Göttin des Olymps nicht nur mit einem Gott der „Barbaren im Norden“ zu verheiraten, sondern auch noch mit einem in nicht menschlicher Gestalt*4. Doch zum anderen, und dies war schwerwiegender, weil Artemis in diesem Mythos ihre Jungfräulichkeit verlor. Die Jungfräulichkeit – heutzutage etwas, welche wie die Jungmännlichkeit von Heranwachsenden im Überschreiten ins Erwachsenensein rasch abgelegt wird – galt in vielen vormodernen Kulturen Moras als ein hehres Gut, dessen Bewahrung oftmals auch ein spiritueller Wert zugeschrieben wurde. So zeichnen sich im alten Kanon drei der weiblichen Göttinnen des Olymps dadurch aus, dass sie wegen ihrer ewigen Jungfräulichkeit rein waren: Athene, Artemis und Hestia. Damit grenzten sie sich von den drei anderen weiblichen Göttinnen auf dem Olymp ab: Hera, Demeter und Aphrodite.
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Dem geneigten Leser mag es bereits aufgefallen sein, welche Ungleichheit selbst unter den Mächtigsten aller Wesen vorherrscht. Obwohl die sexuelle Enthaltsamkeit im alten Kanon als erstrebenwert für Sterbliche und Unsterbliche angesehen wurde, so scheint sie nur für weibliche Göttinnen wichtig zu sein. Es gibt keinen bedeutenden hellenischen Gott, weder auf dem Olymp noch sonst wo, der sich durch Jungmännlichkeit auszeichnet. Im Gegenteil, während Aphrodite als die Verkörperung der lustvollen Liebe mit ihren sexuellen Ausschweifungen die Ausnahme ist, welche Hera, die Göttin der liebevollen Ehe, kontrastiert, so erwartete man von einem Gott geradezu, dass er neben der Ehefrau noch mehrere Liebschaften hat. Zeus ist nicht die Ausnahme, sondern der zweifelhafte Spitzenreiter in einer göttlichen Kultur, welche Frauen als etwas ansah, dass erobert werden muss.
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Eine göttliche Kultur, in der sich natürlich die patriarchalische Kultur der vormodernen Hellenen spiegelt. Eine Kultur, die den Aufgabenbereich der Frau allein im Behüten des Heimes sah, während das Herrschen und Kämpfen die Domäne des Mannes darstellte. Es stellt sicher keinen Zufall dar, dass Athene und Artemis als Göttinnen, die jeweils mit unteranderem Kriegskunst sowie Jagdkunst männliche Talente verkörpern, Jungfrauen sind oder eher sein müssen. Denn wenn sie mit einem Mann verheiratet wären, so wären sie dem männlichen Geschlecht untergeordnet und hätten damit nicht die notwendige Unabhängigkeit, um die Patronin solch männlichen Künste zu sein. Die Jungfräulichkeit diente damit dazu, um diese Göttinnen in den Augen der Sterblichen von der gesellschaftlichen Rolle der Frau als Behüterin des Hauses und als Mutter loszulösen. Sie zu Männern mit Brüsten zu machen, um es plump auszudrücken.*5
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Dementsprechend ist es ein deutliches Zeichen, dass in dem Neuen Kanon sowohl Athene als auch Artemis ihre Jungfräulichkeit verlieren, ohne aber dass ihre Positionen als Göttinnen gemindert werden. Athene ist immer noch die weise Göttin der Taktiker und nun auch die Schutzherrin der Menschen, während Artemis weiterhin das Leitbild aller Jäger und Jägerinnen darstellt. Indem ihre Unabhängigkeit trotz des Zerreißens ihrer Jungfraulichkeit – eben jene Eigenschaft, die das Patriachat verlangte, um gewillt zu sein, die Machtposition einer göttlichen Frau anzuerkennen – bewahrten, verkörpern sie nun auch die Emanzipation der Frau.

*1 Ein bekanntes Beispiel ist die Gründung des Senats, die von dem gleichnamigen Rat der Remischen Republik inspiriert wurde und sich aus gewählten Vertretern aus dem gesamten Großreich zusammensetzte. vgl. Poulos, 418, Die Geschichte des Hellenischen Senates S. 7-35
*2 Geschichtsforscher mutmaßen, dass man dasselbe zu der Zeit davor sagen kann, doch die Quellenlage ist zu dünn, um dies mit Gewissheit zu tun.
*3 Eine ausführlichere Behandlung dieses Urfeminismus, die auf weitere wichtige Faktoren eingeht, kann man in folgendem Buch finden: Poulos, 416, Der Kampf für Gleichheit
*4 Sicher muss so mancher Leser an Zeus denken, der für mehrere seiner berühmt-berüchtigten, an Vergewaltigungen angrenzenden „Liebeseskapaden“ sich in diverse Tiere verwandelte. Der entscheidende Unterschied für die alten Hellenen, aber auch für andere Kulturen, lag darin, dass der Gott aufgrund seiner Göttlichkeit andere Gestalten annehmen kann und dabei ein heiliges Wesen verbleibt, während das übernatürliche Monstrum in seiner bestialischen Gestalt und in seinem animalischen Wesen gefangen ist.
*5 vgl. Foliados, 411, Fesselnde Jungfräulichkeit, S. 35-71

Der nächste Teil der Interpretation wird in zwei Wochen, am 02. August 2024, veröffentlicht.

Admin - 06:34:15 @ Mythen, nordische Kultur, hellenische Kultur | Kommentar hinzufügen