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Neues aus Mora





 

Blogpost aus Mora


2024-08-30

Eine kleine Interpretation der Mythen über die Kinder Lokis - Teil 9

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Die wichtigsten Unterschiede zu dem alten Mythos
Die moderne Variante des Hel-Mythos unterscheidet sich von den älteren vor allem in zwei wichtigen Punkten: Erstens, welche Rolle sie als Schutzherrin der Weiße Weite, dem Jenseits des nordischen Glaubens, spielt. Und zweitens die Position als Tochter Lokis und generell die Familienkonstellation, die sie umgibt.
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Von der Antike bis in die späte Ritterzeit hinein verblieb die Jenseitsvorstellungen des nordischen Glaubens vergleichsweise archaisch. Im hellenischen Glauben verbreitete sich von Beginn der Ritterzeit Sokrates Lehren von der Idee des Guten, womit sich die Vorstellungen durchsetzen, dass der Tod eine Zwischenstadion zwischen zwei Leben darstellt. Der Hades als Jenseits dient damit als ein Ort, wo der Gott Hades über die Toten richtet. Wenn sie tugendhaft im Leben gewesen waren, so wurden die Sterblichen nach ihrem Streifzug durch den Hades als ein edlerer Mensch oder gar als ein Gott wiedergeboren, sofern sie nicht sogar so rein sind, dass sie im Guten aufgehen können, so wie es Sokrates vergönnt gewesen wäre, wenn er sich nicht dafür entschieden hätte, als Gott der Philosophie die Sterblichen auf ihrem Seelenweg zu unterstützen. Wenn der Mensch hingegen schlecht und lasterhaft im Leben agierte, wurde er von den Furien kräftig durchbestraft, bevor er als unedlerer oder gar als niederes Tier wiedergeboren wurde. Auch in dem sich in ganz Mora unterschwellig verbreitenden und sich vereinzelte Bastionen erkämpfenden Christentum gibt es eine ähnliche Vorstellung darüber, dass die Toten sich einem Urteil stellen müssen, wobei die Entscheidung des vermeintlichen allmächtigen Gottes final ist, sodass die Guten für immer im Himmel glücklich frönen dürfen, währen die Sünder für immer in der Hölle brennen.*1
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Im nordischen Glauben hielt sich hingegen lange Zeit eine vergleichsweise simple Jenseitsvorstellung: Die Tapferen, die im Kampf oder in der Schlacht fielen, wurden von den Göttern Asgards nach Walhalla eingeladen, während der Rest, also die Alten, Kranken und die Frauen, in die Weiße Weite reisten. Dieses recht simple Abfertigen der Toten kann man mit den politischen Umständen im Norden erklären. Im Süden Moras entstanden von der Antike an große Reiche wie eben das Hellenische Reich und dessen Rivalen, die mehrere Städte und zum Teil auch bereits mehrere Völker umfassten. Um die Menschen in solch einen großen Struktur nicht nur vor Gefahren von außen zu schützen, sondern sie auch innerlich vereint zu behalten, waren neben Heeren und Verwaltern auch immer ein System der Rechtsprechung notwendig. Herr Schrödinger stellt die interessante These auf, dass durch die Etablierung einer Justiz in einer Gesellschaft sich die Vorstellung verbreitet, dass auch die Toten im Jenseits gerichtet werden.*2 Mit dieser Prämisse ließe sich erklären, warum die Weiße Weite bis zu ihrer Uminterpretation in der späten Ritterzeit als Jenseits an sich so wertneutral von den nordischen Gläubigen angesehen wurde und es nur eine Unterscheidung der Toten anhand ihres Kampfesmutes vorgenommen wurde. Denn in der Antike war der Norden Moras in unzählige Stämme zersplittert, welche in der frühen Ritterzeit in nicht wirklich weniger zerstrittene, kleine Königreiche aufgingen. Erst mit dem Beginn des Zeitalters des Erwachens stabilisierten sich größere Reiche wie Wendel, dessen bürokratische Systeme an die des Hellenischen Großreiches heranreichen konnten, indem es unteranderem bereits bestehende Ideen, Konzepte und Strukturen für die Gestaltung einer Gesellschaft übernahm.
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Somit wäre es naheliegende, dass mit diesem Austausch auch religiöse Konzepte mitübernommen werden, sodass aus Hel, die in den alten Überlieferungen mehr eine selbstsüchtige Herrscherin, die die Toten in ihrem Reich als nicht mehr als Werkzeuge und Spielzeuge ansah, eine Richterin wurde, die den Guten hilft, mit ihren Taten ins Reine zu kommen, während sie jene, die sich mit unverzeihlicherer Schuld beladen hatten, dem Drachen Nidhöggr zum Fraß vorwarf. Interessanterweise kann man meiner Ansicht nach einen noch stärkeren Bezug zwischen dem modernen Hel-Mythos und dem Jenseitsverständnis des hellenischen und christlichen Glaubens herziehen, als es zuerst den Anschein hat. Der Konsens unter Mythenforscher ist, dass, auch wenn Komponenten von Sokrates Lehre vom Guten sicher in den nordischen Glauben eingeflossen sind, die der Wiedergeburt nicht übernommen wurde. Die Toten verbleiben in der Weißen Weite, entweder in Helheim residierend oder im Magen des Drachens darbend. Jedoch würde ich hier wagen, auch wenn ich nur ein einfacher Student bin, eine eigene kleine These aufzustellen: Die Wiedergeburt ist auch Teil des nordischen Glaubens, allerdings in einer indirekten Form. Denn auch wenn die Toten wahrhaftig mit Helheim den Endpunkt ihrer Existenz erreicht haben, so sind sie aber nicht vollkommen von der Welt der Sterblichen abgeschnitten. Es stellt schließlich den Höhepunkt des Mythos dar, dass Hel mit den Göttern Asgards aushandelt, dass eben nicht nur einem Gott wie Balder es gestattet ist, in die Welten der Sterblichen und Unsterblichen zurückzukehren. Auch die Toten dürfen sich in den Tränenbrunnen gleiten lassen und für einen kurzen Moment zu ihren Familien zurückkommen. Dieselben Tote, die in den Eispalästen Helheims über ihr vergangenes Leben redeten und gemeinsam reflektierten. Reflektionen, die sie sicher mit zurück in die Welt der Sterblichen tragen und als Teil von Ratschlägen an ihre Nachfahren weitergeben. Womit ihr Wesen und ihre Werte zumindest zum Teil auf eine gewisse Art und Weise wiedergeboren werden. So wie das alte Denken als Tradition im neuen überdauert.
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Ich könnte sogar einen möglichen Erklärungsansatz für die Entwicklung geben, auch wenn ich gestehen muss, dass es mir noch an handfester Evidenz mangelt: In vielen antiken Kulturen des nördlichen Moras wurde Ahnenverehrung praktiziert. Man brachte also den verstorbenen Vorfahren Verehrung und Opfergaben entgegen, damit sie die Nachfahren aus dem Jenseits heraus unterstützen. Es sollte offensichtlich sein, dass dieses Konzept so nicht mit einer Jenseitsvorstellung mit Wiedergeburt vereinbar ist. Denn wie sollten die Ahnen einem helfen, wenn sie damit beschäftigt sind, erneut zur Welt zu kommen? Dass die Toten stattdessen in Helheim von Hel gerichtet werden und anschließend die daraus gewonnen Reflektionen an die Lebenden weitergeben können – also zwar stationär im Jenseits, aber nicht statisch in ihrem Denken sind – könnte damit eine Hybridisierung der hellenischen, auf Moral beruhenden Wiedergeburt und der ursprünglichen nordischen Endgültigkeit des Todes darstellen.
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Wobei von dieser Endgültigkeit etwas in Form des Drachens Nidhöggr verblieben ist oder genauer gesagt verstärkt wurde. Denn auch wenn Nidhöggr schon seit grauer Vorzeit Teil der nordischen Götterwelt ist und schon immer, zumindest soweit man es zurückverfolgen kann, sich an den Toten labte, so nahm er die Form einer konkreten Bestrafung der Missetäter erst mit dem modernen Hel-Mythos anfangs des Zeitalters des Erwachens an. Meine nordischen Leser werden dies vermutlich nicht gern hören, doch es gibt deutliche Anzeichen, dass dies vom christlichen Glauben inspiriert wurde. Denn die Magengrube des Drachens, voll mit zersetzender Säure, die den Missetätern für immer quält, mutet sehr wie die Gruben voll Feuer an, die den Sünder in der Hölle erwarten.*3
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Mit dieser Neuwertung der Weiße Weite als nordisches Jenseits und Totengericht liegt es nahe, dass Hels Position in der Götterwelt neu evaluiert wurde, vor allem in Bezug zu ihrer Familie. Anders als die modernen Mythen über ihre Brüder geht ihr Mythos mehr auf die Dynamik der Familie Lokis ein, wobei im Vergleich zu den älteren Variationen des Hel-Mythos auffällt, dass es eine drastische Veränderung bezüglich der Mutter der drei Kinder Lokis gibt: Heutzutage gilt Sigyn als die Mutter der drei Kinder Lokis, womit diese auch die Geschwister ihrer beide Söhnen Ali und Narfi sind. Diese sicher für den Leser eigenartig vorkommende getrennte Aufzählung der Kinder Lokis – welche der neuartige Hel-Mythos wohl versucht zu umgehen, indem es von den zwei Brüdern und den Drillingen spricht – lässt sich damit erklären, dass es hier ursprünglich zwei Mütter gegeben hatte. In den alten Variationen gebar Sigyn Loki nur die zwei Söhne, während die drei Kinder Lokis die „monströse Brut“ der Riesin Angrboda darstellen. Es kann nur spekuliert werden, warum die eine Mutter unter den Tisch gefallen lassen wurde, doch wie immer bietet die Mythenforschung einen interessanten Ansatz: Das Volk der Riesen stellt, auch wenn viele Geschichten es etwas ausdifferenzieren, einen Widersacher dar, nicht nur für die Götter Asgards, sondern auch für die Sterblichen. Thor ist schließlich ein Gott, dessen Aufgabe es unteranderem ist, Midgard vor den Eisriesen zu schützen. Dass die drei Kinder Lokis ursprünglich mit den Riesen in Verwandtschaft standen, galt auch als einer der Gründe, warum die Götter Asgards sie fürchteten. Deshalb kann gemutmaßt werden, dass der Mutterwechsel dazu dienen könnte, um die drei Kindern Lokis von dieser unheilvollen Verwandtschaft zu trennen.*4
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Dieser Ansatz wurde auch stark damit harmonieren, dass es Sigyn vergönnt ist, die neue Mutter zu sein. Nicht nur, weil sie die Ehefrau Lokis ist, sondern auch weil sie eine so liebenswürdige und aufopfernde Göttin ist. Schließlich ist sie dafür bekannt, dass sie an der Seite ihres gefesselten Mannes wachte und versuchte, so gut wie es ging, mit einer Schale das herabtropfende Gift der Schlange über ihm aufzufangen. Damit erscheint es naheliegend, dass sie den Mittelpunkt einer Familie darstellt, aus deren Zusammensein die wenigen glücklichen Erinnerungen stammten, die Hel hatte und so verzweifelt versuchte, zu unterdrücken.
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Zudem wird auch die Rolle ihres Vaters Loki neu eingeordnet, wobei er aber, auch wenn er wesentlich positiver als in den alten Variationen gewertet wurde, nicht sehr gut wegkommt, zumindest was seine Rolle als Familienvater angeht. Denn auch wenn er es letztendlich war, der seine drei Kinder vor dem Angriff der Götter warnte und sie beriet, sodass sie am Ende obsiegten, so zeugt sein Handeln sehr von seinem Charakter als Tricksergott, der mit dem Wohlergehen seiner Kinder spielt, um zu sehen, ob er das Schicksal austricksen kann. Denn auch wenn seine Rechnung, dass er mit Balders Tod seine Tochter Hel in die Weiße Weite bringen konnte, wo sie für seinen Plan in der richtigen Position wäre, aufging, so ändert dies nichts daran, dass er bereitwillig das Leben des gütigen Gottes subtrahierte und heftig viel zu dem Leid seiner Tochter addierte. Auch wenn er dies laut eigener Aussage tat, um die Welten vor Ragnarök zu retten, so ändert es nichts daran, dass er es tat, indem er andere hereinlegte und hinterging. Es ist damit kein Wunder, dass selbst seine eigenen Kinder ihm so sehr misstrauen und ihn nur anhören, weil sie wussten, wie gerissen er ist.
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Schlussteil
Somit wären wir am Ende meiner kleinen Interpretation angekommen. Ich hoffe, ich konnte Sie, mein lieber Leser, von folgenden Punkten überzeugen: Die modernen und äußert beliebten Mythen über die drei Kinder Lokis handeln in ihrem Kern von der Freiheit, die der Einzelne durch das Zusammensein mit seinen Mitmenschen erhält. Während Hitis Geschichte aufzeigt, wie der Einzelne, selbst der mächtige Einzelne, freier wird, indem er Teil einer Gemeinschaft ist und damit den Freiheitsgewinn im Großen steigert, handelt Epios Geschichte von der kleinsten gemeinschaftlichen Einheit, die der Familie, die also Freiheit im Kleinen gibt. Ihrer beider Schwester Geschichte wiederum zeigt die Wichtigkeit von Gerechtigkeit als das, was die Menschen zusammenhält, und wie ein Recht, welches mehr Ungerechtigkeit als Gerechtigkeit sät, die Menschen auseinanderreißt und sie vereinsamen lässt.
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Das Handeln der drei wird als das Neue den Göttern Asgards, dem Alten, gegenübergestellt, ohne aber, dass letzteres zerstört wird. So wie in der Geschichte Moras neues Denken alte Werte uminterpretierte, so können die drei Kinder Lokis ihren Platz erhandeln, ohne die Götter Asgard vernichten zu müssen, wie es ihnen einst prophezeit worden war. Somit sind ihre Mythen Geschichten des Fortschreitens und Reformierens, aber nicht des Zerstörens und Revolutionierens.

*1 Man muss aber anmerken, dass der christliche Glauben deutlich weniger kanonisiert ist als die großen Glaubensrichtungen wie die nordische und die hellenische. So glauben zum Beispiel nur die Hamartianer an dieses finale Urteil durch ihren allmächtigen Gott. Die Gnostiker hingegen haben Jenseitsvorstellungen, die mehr den hellenischen ähneln und Elemente wie Wiedergeburt beinhalten. Hierbei handelt es sich aber auch nur um die wage Bezeichnungen der zwei wichtigsten Denkströmungen im Christentum und umfassen unzähligen eigenständige Kulte, deren spirituellen Konzepte sich teilweise drastisch unterscheiden.
*2 vgl. Schrödinger, 410, Niemand entkommt seinem Urteil, S. 210-222
*3 vgl. Winkelstein, 411, Ein kurzer Abriss der Religionsgeschichte Nordmoras – Band 9, S. 145f.
*4 vgl. Winkelstein, 411, Ein kurzer Abriss der Religionsgeschichte Nordmoras – Band 9, S. 111-116

Damit ist diese Mytheninterpretation vollendet. In zwei Wochen gibt es am 13.09.2024 einen neuen Mythos zum Lesen.

Admin - 08:38:13 @ Mythen, nordische Kultur, hellenische Kultur | Kommentar hinzufügen