2025-07-04
1
Der Rest der Führung floss etwas zäh dahin. Aufgrund der sehr lebhaften Diskussion verblieb Petrus nur noch wenig Zeit, sodass er seine verbliebenden Worte raffen musste. Allerdings schien dies sowieso besser zu sein, denn zwar hörte die Klasse brav zu, schien aber sehr in Gedanken versunken zu sein. Leider hatte er hierbei nicht das Gefühl, dass dies ihm wegen einer großen Erleuchtung gelungen war, sondern dass er stattdessen die Kinder schlichtweg überfordert hatte. Zumal ihm eindeutig ein paar Erklärungen misslungen waren. Doch seine Selbstbetrübnis begleitete ihn, nachdem er mit den anderen beiden Studenten und seinem Dozenten die Klasse verabschiedet hatte, nur das kleine Stück durch die Halle in den Pausenraum. Denn dann löste sie sich wie von Sonnenstrahlen zerpflückt, als Brigit um seinen Hals fiel und goldig verkündigte: „Petrus, du warst wunderbar!“ „Wirklich?“, erwiderte Petrus zwar mit zweifelnder Stimme, doch er konnte nicht anders, als aufgemuntert zu lächeln. „Mir waren einige Erklärungen nicht so gut gelungen. Zumal mir die Führung zum Ende hin etwas entglitt.“ „Aber dass du den Gabriel überhaupt dazu überzeugen konntest, sich für deine Erläuterungen zu öffnen, war schon eine Meisterleistung an sich“, widersprach Brigit. „Jeder konnte sehen, dass sich etwas in dem Jungen geöffnet hatte.“ „Das kann man nicht leugnen“, murrte Siegfried. Der goldfellige Katermann musterte Petrus argwöhnisch: „Du warst also selbst einmal ein Christ?“ „Ich dachte, das läge auf der Hand“, erwiderte dieser. „Schließlich benannten meine Eltern mich nach einem der Apostel Jesu.“ „Wann bitte erweckte ich den Eindruck, dass ich eine Bibel lesen würde?“, fragte Siegfried und schüttelte ungläubig den Kopf. „Aber ernsthaft: Bei dir, dem Oberatheisten hatte ich erwartet, dass du gnadenlos dem Jungen den Glauben auseinandernimmst. Und was machst du stattdessen? Sprichst mit ihm, hörst ihn an und kommst mit ihm zu einem Einverständnis, die ganze Zeit so stoisch zu agieren.“ „Deutest du damit an, dass ich sonst nicht stoisch bin?“, bohrte Petrus nach, worauf der Katermann mit den Schultern zuckte und unschuldig mit seinem dünnen Schwanz wedelte: „Ja, sonst bist du eher verkrampft und hasserfüllt.“ „Petrus ist doch nicht hasserfüllt!“, erwiderte Brigit erbost, den Arm ihres Geliebten enger haltend. „Es gibt eben nur ein paar Dinge, die ihn sehr beschäftigen.“ Ein Moment der Stille, in dem beide jungen Männer noch einen zweiten Satz erwarteten, bis Petrus sich räusperte: „Aber dem Verkrampftsein widerspricht du nicht?“ Ein besänftigendes Klimpern mit den Augen, dann ein kleines Küsschen auf seine Wange, bevor Brigit erklärte: „Dir fällt es tatsächlich etwas schwer, dich zu entspannen. Doch dafür hast du ja mich.“
2
Die Tür des Pausenraumes öffnete sich, sodass Brigit noch einmal Petrus’ Arm drückte, bevor sie losließ und mit den beiden anderen ihrem Dozenten sowie dem Lehrer beim Hereinkommen entgegensah. Das Wort ergriff zuerst der Lehrer, während er dankbar den Studenten einem nach dem anderen die Hand schüttelte: „Ich danke Ihnen für diese schöne Führungen. Es hat den Kindern sehr gefallen und ihnen ein bisschen Erdgeschichte sehr veranschaulicht.“ „Das ist gut zu hören“, sagte Petrus, während er den festen Händedruck erwiderte. „Hoffentlich sind die Schüler nicht zu sehr verwirrt. Zum Ende hin wurde meine Führung nahezu philosophisch.“ „Nun, die werden ein bisschen Zeit brauchen, um das alles zu verstehen“, bestätigte der Lehrer, die Hand loslassend. „Doch Sie brauchen sich nicht zu sorgen. Ich werde meine Schützlinge damit nicht allein lassen. Im Unterricht werden wir das alles nachbereiten. Dazu hätte ich jedoch ein paar Fragen für Sie, Herr Berger, vornehmlich wegen Gabriel, dem christlich gläubigen Jungen. Wenn es Ihnen natürlich nicht zu nahe geht.“ „Ich geben Ihnen gern eine Antwort“, nickte Petrus, worauf der Lehrer zuerst etwas eingestand: „Ich weiß das sehr zu schätzen. Dass Gabriel mit dem Rest der Klasse nicht zurechtkommt, ist, muss ich leider eingestehen, wohl zum Teil auch meine Schuld. Anfangs habe ich noch im Sachkundeunterricht versucht, auf seine Fragen einzugehen. Doch es lief immer darauf hinaus, dass er mit seinem enthemmten Leugnen von Evolution den Unterricht störte, sodass ich mich gezwungen sah, ihm jegliche Fragen zu verbieten. Was an sich schade ist, denn sonst ist er ein Musterschüler. Er besteht seine Prüfungen nahezu perfekt. Selbst die über Evolution, auch wenn er immer darunterschreibt, dass dies alles erlogen wäre.“ Petrus klang das nur zu bekannt: „So verhielt ich mich ebenfalls als Schüler. Weil ich zuhause die Bibel als Gottes Wort gelehrt bekam, welches nicht hinterfragt werden kann und wortwörtlich zu nehmen ist, verweigerte ich mich lange dem Schulwissen über diese Streithemen. Was dazu führte, dass meine Lehrerin und meine Mitschüler sich über mich lustig machten. Was wiederum mich nur noch verschlossener machte.“ „Ein eskalierender Kreislauf“, begriff Brigit und sie sah ihn fragend an. „Wie hast du ihn durchbrochen?“ „Indem ich einen Lehrer traf, der sich nicht über meinen Glauben lustig machte“, antwortete Petrus und nannte dann den Namen. „‚Über die Entstehung der Arten‘“
3
„Was? Das Original?“, entfuhr es Siegfried, während Brigit, die die Geschichte schon kannte, kicherte: „Nur gut, dass es kein Lehrer aus Fleisch und Blut war, mein lieber Zerreißer …“ „Wie bitte?“, verstand der Katermann nicht, worauf der amüsierte Petrus erklärte: „Beim ersten Lesen wurde ich so wütend, dass ich es zerriss. Für Kreationisten ist das Buch nahezu der Teufel, der direkte Widersacher der Bibel. Tatsächlich hatte ich es nur in die Hand genommen, weil es mir mein Onkel geschenkt hatte. Eine Weile ließ ich es zerrissen herum liegen, bevor mich dann doch die Neugierde verführte.“ „Für ein Kind dürfte das aber eine ziemlich schwere Lektüre gewesen sein“, merkte Professor Müllziege an, was Petrus benickte: „Ich war zwar schon ein Jugendlicher, aber ja, ein paar Anläufe hat es gebraucht. Vieles musste ich in der Schulbibliothek nachschlagen, tunlichst darauf achtend, dass meine beiden Schwestern nichts mitbekamen, denn sie hätten mich bei unseren Eltern verpetzt.“ „Ich verstehe aber noch nicht ganz, worauf Sie hinauswollen“, merkte der Lehrer an. „Warum hat ein Buch, aber nicht eine Lehrerin Sie überzeugen können?“ „Weil meine Fragen angriffslustig gewesen waren“, erklärte Petrus. „Kreationisten glauben, dass die Evolutionstheorie allein dazu erdacht wurde, um den wahren Gott zu leugnen. Sie sehen es als einen Angriff, womit ihre Fragen als Gegenangriffe dienen sollen, um diesen vermeintlichen Trug zu entlarven. Diese Fragen werden also nicht mit gutem Willen gestellt und dementsprechend ablehnend werden diese beantwortet. Womit sich wiederum die Christen sich in ihrem Verdacht bestätigt fühlen.“ „Doch ein Buch scherte sich nicht darum, dass du angriffslustig warst“, begriff Brigit. „Selbst nachdem du es zerriss. Es legte dir einfach das Wissen über Evolution dar.“ „Es zwang mich, skeptisch zu werden“, nickte Petrus und er wandte sich an den Lehrer. „Genau dies versuchte ich bei Gabriel zu erreichen. Denn bei Brigit hier wollte er nicht zuhören, weil er glaubte, ihr Zögern, ihm eindeutig zu widersprechen, würde bedeuten, dass er sie bloßgestellt hatte. Bei Siegfried hingegen fühlte er sich selbst angegriffen, weshalb er auf Abwehr setzte. Deshalb bemühte ich mich um einen Kompromiss, um ihm verständlich zu machen, dass ich weder ihn noch seinen Glauben angreifen will. Sondern ihm Dinge erklären will, die mit seinem Glauben im Widerspruch stehen.“ „Sie haben es ihm unvoreingenommen erklärt, während wir alle versuchten ihn zu bekehren, ohne dass es uns bewusst war“, schlussfolgerte sich der Lehrer das Entscheidende. „So ist es“, sagte Petrus. „Ich gab Gabriel allein Wissen, aber keinen Rat. Welche Schlüsse er für sich daraus zieht, liegt nun allein bei ihm.“
Damit endet diese Geschichte. Eine neue Geschichte wird in zwei Wochen, am 18. Juli 2025, ihren Anfang finden.
Admin - 07:49:31 @ Naturkunde, Erzählung | Kommentar hinzufügen