2025-07-18
Der Säugling – Erstes Kapitel
1
Das höhnische, schwere Gerumpel einer schweren Eisentür brach Filippo aus dem Kokon kreisender Gedanken heraus, die seine verdammte Seele wer weiß wie lange von seiner Umgebung abgeschnitten hatten. Schlagartig wurde er sich der Dinge um sich herum bewusst, aber auch allein nur das. Er vernahm die Dunkelheit um sich herum, ohne dass ihre Kälte ihn biss und ihre Feuchtigkeit an ihm nagte. Es bekümmerte ihn mehr, dass seine nackten Zehen in der Luft baumelten, als dass massive Eisenschellen seine hochgezogenen Hände erdrückten. Weder sich vertiefende Müdigkeit noch aushöhlender Hunger konnten ihm sagen, wie viel Zeit verstrichen war. Allein dieser schreckliche Durst regte sich in seinem leblosen Leib, ihn heiß, aber nicht warm animierend.
2
Eben jener Durst riss sich aus seiner Brust heraus und hetzte Filippos Sinne wie eine Kette mit sich zerrend jenen entgegen, die den Gang entlangkamen. Drei Kreaturen fand der Durst vor. Zweie von ihnen verbreiteten einen Gestank der Verwesung. Ghuls, wie Filippo zu erkennen wusste. Törichte Männer, die ihre Seele für das Versprechen von Reichtum und Macht an einen Vampir verkauften. Filippo bezweifelte berechnend, dass die beiden wussten, dass sie innerlich starben. Funken von Abscheu, aber auch Mitleid flackerten in seiner Seele auf, bewirkten aber kaum etwas als Flöhe im Fell des Durstes, sodass Filippo den Ghuls allein Desinteresse zollte: Diese würden seinen Durst nicht stillen können. Dasselbe galt auch für die dritte Kreatur, doch ihr gegenüber wich der Durst zurück, sich einem Bruder gegenüber fühlend, der aber deutlich größer und stärker war. Ein Gefälle wie zwischen einem Wolfwelpen und einem ausgewachsenen Warg. Unter Lebenden hätte dies im Schwächeren Furcht und Unterwerfung hervorgerufen, doch unter Verdammten lief es allein darauf hinaus, dass Filippos Durst die Stärke des anderen anerkannte.
3
„Verweilen Sie noch unter den Lebenden, mein werter Filippo? Oder leisten Sie mir bereits Gesellschaft?“, hallte eine fein artikulierte Stimme durch den Gang hin zu Filippos Zelle, direkt gefolgt von dem Schein einer Fackel, welcher durch den Schlitz unter der Zellentür hereinkroch. Sogleich öffnete einer der Ghuls die Tür und schob sie mit seinen überlangen Armen auf. Er trat von Filippos aus gesehen auf die linke Seite der Zelle, während der andere Ghul mit der Fackel auf die rechte trat. Dabei konnte Filippo sehen, dass der Fackelträger noch recht menschlich aussah, während bei dem anderen die Wandlung schon fortgeschrittener war. Ihm fehlte die Nase und die Augen wirkten gewaltig. Interessiert vernahm Filippo, dass die Augen aber nicht verfault wirkten. In einem Buch über Vampire und Ghuls hatte er einst gelesen, dass die Augen eines Ghuls so groß wurden, weil Verfaulungsgase sich in ihrem Inneren ansammelten. Doch diese Augen wirkten weder verfault noch fehl am Platze, denn auch die Augenhöhlen hatten sich vergrößert.
4
„Äußert faszinierend, diese Wandlungen, nicht wahr?“, fragte der als Letzter eintretende fein eingekleideter Fledermann. Zumindest nahm Filippo an, dass Baron Bissmarck wie immer fein eingekleidet war, doch dies konnte er im Schein der Fackel nicht sehen, da der Baron seine Lederschwingen wie einen Mantel um sich gelegt hielt, anstatt die Flügel wie andere Fledermenschen oder wie Harpyien an den Schultern zusammenzuklappen. So gebar der Baron sich schon, als er einen späten Abend Filippo in der Bibliothek aufsuchte, doch damals hatte er es für eine Eigenheit gehalten, wie sie der Adel so pflegte. Wenig hatte er dem Beachtung geschenkt, zumal Filippo vielmehr davon aufgeregt wurde, dass ein Baron ihn aufsuchte. Und ein Fledermann ebenso, denn so einen hatte er in seinem kleinen Heimatstädtchen noch nie erblickt. Jetzt aber, wo Aufregung nicht mehr durch seinen Körper vibrierte, mutmaßte Filippo, dass diese ungewöhnliche Haltung vielleicht dazu diente, die unnatürlichen Merkmale des Barons zu kaschieren, wie unteranderem seine Blässe, die nicht im Gesicht, sondern vor allem in den Muscheln seiner großen Ohren ersichtlich wurde, denn die sollten eigentlich dank der Durchblutung schön rosig sein.
5
Der Durst regte sich in Filippo bei dem Gedanken an Blut, während der Baron an den linken Guhl herantrat und seinen in einen seidenen Ärmel steckenden rechte Arm unter der Flughaut heraussteckte, um die Züge des Ghuls zu betasten, was dieser stillhaltend gewähren ließ: „Ein Tropfen meines Blutes macht aus einem Mann einen Diener, der sich in der Unterwelt zurechtfindet.“ Der Baron richtete seinen Blick auf den hängenden Filippo: „Eine Handvoll hingegen zu einem Gleichgestellten, einen Herrscher der Nacht.“ Der Baron ließ von dem Ghul ab und stellte sich vor Filippo, ihn eingehend mustern: „Wie fühlen Sie sich?“
6
Viele Funken hüpften durch das Fell des Durstes: Fliehende Angst, die Filippo in den Ketten umherzucken gelassen hätte. Explodierende Rebellion, die seine freien Beine hätten nach dem Vampir treten lassen. Brennender Hass, der in harschen Worten dem Baron entgegengeschlagen wäre. Doch der Durst erstickte sie alle und er erwiderte kalt: „Mir ist langweilig.“ „Das ist verständlich“, meinte der Baron und er lächelte, seine Fangzähne entblößend. „Zudem ist es gut zu hören.“ Filippo merkte, dass er den Baron zum ersten Mal lächeln sah und verstand auch sogleich warum. Doch etwas anderes wollte dafür keinen Sinn ergeben, weshalb er, den Kopf schräg anlegend, fragte: „Warum?“ „Oh, ich meinte es durchaus ernst damit, dass ich einen neuen Bibliothekar brauche“, antwortete der Baron. „Ihr Vorgänger hatte sich tatsächlich gegen mich verschworen, weshalb ich ihn dem Sonnenschein überlassen musste. Und Sie erschienen mir ein guter Ersatz zu sein, mein werter Filippo.“ „Das meinte ich nicht“, erwiderte der Hängende weiterhin kalt. „Oder doch, denn ich verstehe nicht, was Sie noch an Büchern wertschätzen können. Denn ich spürte, wie meine Gefühle starben.“ Eine Aussage, die angesichts ihrer Schwere ziemlich leicht und tonlos über Filippos ergrauten Lippen kamen. Ebenso die nächsten Worte, obwohl sie sich gut für einen Angriff geeignet hätten: „Sie haben keine Neugierde mehr, die Sie zum Lesen anregen kann, Baron. Und keine Freude, die Sie zum Lächeln bringt. Warum verziehen sich dann trotzdem Ihre Lippen?“ „Aus demselben Grund, warum Sie den Kopf schräg anlegen, obwohl Sie keinerlei Verwirrung verspüren sollten“, erwiderte der Baron, ein Schmunzeln vorspielend. „Von den vielen Sprichwörter, für deren Erdenken die Sterblichen so viel von ihrer geringen Lebenszeit verschwenden, stimmt zumindest eines vollkommen: Alte Gewohnheiten sterben schwer. Wir mögen nicht mehr der Geisel von Gefühlen ausgesetzt sein, doch die alten Regungen sind noch immer nützlich dafür, auszudrücken, was uns antreibt.“ „Uns antreibt?“, echote Filippo, was erneut die Lippen des Barons trügerisch zucken ließ: „Ihre Einsicht, mein lieber Filippo, dass weder Sie noch ich Neugierde verspüren, ist durchaus korrekt. Doch an ihrer Stelle ist uns etwas Reineres vergönnt: Pures Interesse. Mir ist es nicht entgangen, wie Ihre Augen mich, meine Diener, alles hier ertasteten. Ihr Geist sammelt unentwegt Informationen. Und dies, ohne von lästigen Gefühlen wie Hunger, Angst oder Hass gehindert zu werden, nicht wahr?“
7
Filippo konnte nicht anders, als simpel zu nicken: „So ist es. Was eigenartig ist, wenn man bedenkt, dass ich Ihr Gefangener bin.“ „Ein Umstand, dem ein Geist, der sich von dem Weltlichen gelöst hat, keinerlei Beachtung schenken muss“, bekräftigte der Baron, den Guhls einen Wink gebend. Sogleich lösten diese Filippos Handschellen und seine nackten Füße klatschten auf den Boden. Doch er dachte nicht an Flucht, schob nicht einmal seinen rechten Fuß etwas zur Seite, obwohl eine harte Unebenheit des Kerkerboden sich ihm in die Sohle drückte. Stattdessen hörte er dem Baron weiter zu. Nicht weil er gebannt war, es erschien in dem Moment einfach als das Plausibelste. „Denn Ihre Seele hat Zugang zu dem Gute erhalten. Zu dessen Reich der perfekten Ideen und Formen“, offenbarte Baron Bissmarck, was Filippo aus Gewohnheit eine Augenbraue verziehen ließ: „Beziehen Sie sich etwa auf die Metaphysik des Platons?“ „Nur augenscheinlich“, erwiderte der Baron. „Denn der gute Platon war nur ein Mundstück für seinen Lehrmeister Sokrates, der seine Lehre perfektionierte, nachdem er den Schierlingsbecher austrank.“ „Wollen Sie damit etwa andeuten, dass Sokrates ein Vampir gewesen sein soll?“, fragte Filippo, nicht mit Unglauben, sondern mit schlichtem Interesse daran, ob diese gewagte Hypothese wahr sein könnte. „Er ist es noch immer, soweit es mir bekannt ist“, erwiderte der Baron. „Über die Jahrhunderte hinweg verfasste er noch so einige Schriften, die Philosophie stetig voranbringend und der Welt der Sterblichen Erkenntnisse gebend, die sonst unter Gefühlen begraben wären.“ Eine rechte Hand kam unter den Lederschwingen hervor und legte sich auf Filippos Schulter: „Dasselbe kann auch Ihnen vergönnt sein, mein guter Filippo. Das, was Sie insgeheim sich die ganze Zeit schon sehnten: Einem vollkommenden Hingeben zu Wissen. Ich habe Sie lange beobachtet, womit mir bewusst ist, wie viel Zeit Sie in der Bibliothek verbrachten, auch abseits der Arbeit. Sie sind ein Mann des Wissens, mein werter Filippo, der von seinen Gefühlen gehindert wurde. Stellen Sie sich nun vor, was sie erreichen können, wenn Sie nicht mehr von Hunger geplagt werden. Sich nicht mehr um die Anerkennung Ihrer ‚Mitmenschen‘ scheren müssen. Oder sich nicht mehr von dem Verlangen nach der Aufmerksamkeit jener schönen Frauen verzehren lassen müssen, die Ihnen sowieso keine Beachtung schenkten.“
8
Filippo hatte eigentlich so einiges verspüren müssen bei diesen Worten. Scham darüber, da der Baron offensichtlich gut über seinen Mangel an Freund und Geliebten informiert war. Furcht, weil sein Leben nahezu seziert worden war. Und Abscheu vor diesem Vorschlag, alles Menschliche hinter sich zu lassen. Doch das Einzige, was sich in seiner Seele regte, war die simple Erkenntnis, dass dies tatsächlich eine bessere Existenz als seine vorherige darstellen würde. „Vielleicht wäre es tatsächlich … reizvoll, Ihr Bibliothekar zu werden“, gestand er letztendlich ein, worauf der Baron mit einem Wink dazu aufforderte, ihm aus der Zelle heraus zu folgen: „Ich wusste, dass die pure Vernunft Sie dies erkennen lassen würde. Meine Bibliothek beherbergt so viele Bücher, dass man eine Ewigkeit benötigt, um sie alle zu lesen. Eine Ewigkeit, die Ihnen gewiss ist, sobald Sie gelernt haben, mit dem einzigen Gefühl zurechtzukommen, welches wir noch haben: den Durst. Etwas lästig, doch wir können dem Durst keinen Vorwurf machen: Selbst ein unsterblicher Körper muss schließlich genährt werden.“
Der nächste Teil der Geschichte wird in zwei Wochen, am 01. August 2025, veröffentlicht.
Admin - 12:55:12 @ Erzählung, Fiktion in Fiktion | Kommentar hinzufügen
Kommentar hinzufügen
Die Felder Name und Kommentar sind Pflichtfelder.