2025-08-01
1
„Ps, ps, hab keine Angst …“, flüsterte Rebekka mit kratzender Stimme zu ihrer kleinen Annemarie. In diesem absoluten Dunkel konnte die Eichhornfrau nicht ihren Säugling sehen, weshalb sie ihre Tochter fester an sich drückte, damit ihre Körperwärme wenigstens etwas der Geborgenheit geben konnte, die das fehlende Licht vorenthielt. Aufgrund der toten Stille im Kerker vernahmen ihre spitzen, gepelzten Ohren neben einem stetigen Herabtropfen von Wasser das Rascheln des Felles ihres buschigen Schwanzes, als sie diesen über ihre Brust zurechtrückte, damit Annemarie weiterhin so gut wie ihre Mutter es bewerkstelligen konnte vor der Kälte geschützt war. Das war alles, was sie tun konnte: Ihren Leib nutzen, um ihre Tochter vor dem harten Stein von Boden und Wand zu schützen, die sich unnachgiebig ihr in Rücken und Gesäß pressten. Dem Säugling durch Wiegen und Sprechen vermitteln, dass die Finsternis nicht vollkommen war. Und vor allem ihre tiefe Hoffnungslosigkeit gefangen halten.
2
Doch dies fiel ihr immer schwerer, denn es gab keinen Ausweg. Ihre Kräfte schwanden immer mehr, wie Kerzenschein im frostigen Winterwind. Zwar hatten ihr die Scheusale mit den riesigen Augen etwas zu essen und zu trinken geben, doch es war wenig gewesen. Gerade genug, dass sie nicht verging. Selbst als sie aber noch genug Kraft gehabt hatte, um aufzustehen, konnte sie nicht entkommen, denn es gab keinen Ausweg. Die eiserne Tür ratterte nicht einmal, als Rebekka an ihr rüttelte. Als sie ihre Tochter auf dem rechten Arm haltend vorsichtig in der Dunkelheit die Wände mit ihrer linken Hand abtastete, fand sie nichts anderes vor als die massiven Steine des Mauerwerkes. Tatsächlich versuchte sie mehr verzweifelt als überlegt sogar, mit ihren langen Fingerkrallen sich einen Weg herauszugraben. Doch ihre Handkrallen, die dafür gedacht waren, die Rinde eines zu erkletternden Baumes zu durchstechen, konnten nicht einmal einen Kratzer auf den Steinen hinterlassen, etwas, was sie einsah, als sie sich das lange Krallenglied am linken Zeigefinger brach. Somit blieb ihr nichts anderes übrig, als ihre Handschuhe wieder anzuziehen, sich hinzusetzen und auf ihr Schicksal zu warten.
3
Und sich fragen, warum Gott dies alles zugelassen hatte. Warum hatte der Allwissende zugelassen, dass die Vampire ihr Dorf heimsuchten? Aus welchem Grund ließ der Allmächtige ihre Familie, ihre Nachbarn, jeden sterben? Nicht einmal für den alten Pfarrer, dessen ganzes Leben seiner Ehrung gewidmet worden war, hatte sich der Allgütige erbarmen können? Rebekkas Eingeweide erfroren, so kalt wie die Gleichgültigkeit ihres Gottes. Das Feuer ihres Glaubens versuchte sie zu befreien, doch dessen Sätze klangen in der toten Stille der Zelle hohl. „Gottes Weges sind unergründlich …“, flüsterte Rebekka einen jener. Nun, sie verstand wahrhaftig nicht, welchem Guten der Tod von nahezu allen, die ihr wichtig gewesen, dienen könnte. Vielleicht eine Bestrafung? Doch wofür? Jeder im Dorf war ein guter, gottesfürchtiger Mensch gewesen. Außer vielleicht … sie selbst, weil sie als Heide aufgewachsen war und erst für die Heirat ihres Mannes Hans – ihre Eingeweide brachen, als vor ihre Augen sein von einem Vampir aufgebissener Hals aufblitze – im Glauben übertrat.
4
Ihre Kehle schnürte sich zusammen und ihre freie linke Hand wanderte von Schuld beschwert hoch zu ihrem Hals, ihr hölzernes Halskreuz ergreifen. Doch ihre Gedanken hingegen glitten herab zu ihrem ungetragenen Amulett, versteckt in einer Tasche ihres Kleides: eine goldene Spindel, um die eine silberne Schnur gewunden war. Ein Symbol der Frigg, die Göttin der Ehe und Familie sowie eine Weberin von Schicksalen. Rebekkas Vater schenkte es ihr zu ihrer Hochzeit, damit ihr ein schönes Schicksal mit einer eigenen, großen Familie vergönnt wäre. Für ihren Mann stellte es ein Dorn im Auge dar, weshalb sie es immer verborgen trug. So sehr, dass nicht einmal die Ghuls, welche sie mit ihren grässlich langen Fingern absuchten, es gefunden hatten. Doch Gott entging nichts. Zürnte er ihr, weil sie den Göttern Asgards nicht vollkommen entsagt hatte? Hatte sie ihn beleidigt, weil sie nach der Geburt ihrer Marie nicht nur ihm, sondern auch Frigg gedankt hatte? Stieß es ihn ab, dass sie immer noch an den heidnischen Ritualen teilnahm, wenn sie ihre Familie besuchte? War dies vielleicht der Grund, warum sie noch lebte? Stellte ihr endloses Versinken in Hoffnungslosigkeit Gottes Strafe dar?
5
Ein Wimmern riss Rebekka aus ihren Gedanken heraus und sie begann, ihr Kind zu wiegen. Als ihre Marie aber nicht aufhörte, zu weinen, fragte sie: „Bist wieder hungrig, nicht wahr?“ Sie wusste nicht, wie lange die letzte Stillung her war, denn ohne Sonne existierte die Zeit nicht. Aber selbst wenn sie drohte, ihre Tochter zu überfüttern, sie der Sünde der Völlerei auszusetzen: Es war der einzige Trost neben der Wärme, die Rebekka als Mutter geben konnte. Somit entblößte sie ihre Brust und schob sachte liebevoll den Kopf ihres Kindes heran. Als ihre Marie begann zu saugen, regte sich ihre mütterliche Liebe. Und mit ihr entbrannte ein Zorn auf Gott. Rebekka hätte dies alles als ihre Strafe akzeptieren können, doch wie könnte ein allgütiger Gott ihre Marie, einen Säugling, ungetauft, weil sie sich noch nicht für oder gegen die Verehrung Gottes entscheiden konnte, so abscheulich bestrafen. Vielleicht hatte ihr Vater recht gehabt: Der christliche Gott ist nichts weiter als ein schändlicher Lügner, der seine Erbärmlichkeit versucht dadurch zu vertuschen, indem er sich arrogant über alle anderen Götter stellte.
6
So rasch die Wut kam, ging sie auch wieder. Oder vielleicht brannte sie eine Weile, denn wer konnte das hier in der toten Stille schon mit Gewissheit sagen? So oder so hingen die ausgebrannten Kohlen ihrer Wut an Rebekka und zogen sie noch tiefer in ihre Hoffnungslosigkeit. Denn sie und ihr Kind waren vollkommen allein. Niemand würde ihr zur Hilfe kommen, weder Mann noch Gott. Kein Ritter oder Angel würde sich den Vampiren in den Weg stellen, wenn diese kamen, um sie zu fressen. Und ihre Marie.
7
Ein furchtbarer Gedanke formte sich in ihrem Kopf. Eine grausige Vorstellung, so unfassbar, dass sie sich nicht vollkommen festigen konnte. Doch auch so wurde Rebekka von der Vorstellung zerdrückt, wie ein Vampir ihre Marie anfallen könnte. Im Schatten dieser Furcht konnte sich ein anderer Gedanke an ihre Seele heranschleichen, der sonst undenkbar wäre. Wie eine Schlinge zog Rebekka ihren buschigen Schwanz näher um ihre Brust, fester um die arglos saugende Marie. Ihre freien Finger und vier verbliebenen linken Krallenglieder zogen sich durch das Fell, sich davon überzeugend, dass es dicht genug war. Es sollte möglich sein, ihr Kind damit zu ersticken … Kein schöner Tod, doch besser als das, was Marie erwartete …
8
Rebekka schreckte aus ihrem Gedankengang, als sie im mittleren Glied ihres linken Zeigefingers einen scharfen Schmerz verspürte. Ihre linke Hand zuckte aus der Tasche ihres Kleides heraus, was sie sogleich verwirrte. Sie hatte doch gerade das Fell ihres Schwanzes ertastet, oder? Zudem konnte sie sich nicht erinnern, ihre Hand ein zweites Mal in die Tasche gesteckt zu haben. Verwirrt ertastete sie den linken Zeigefinger und erspürte etwas Feuchtes. Es bedurfte einiger Momente, bis sie den einzigen möglichen Schluss anerkannte: Es musste ihr Blut sein. Sie hatte sich geschnitten. Aber womit? Vorsichtig zog sie ihr Spindelamulett heraus und betastete es. Und hätte sich fast erneut geschnitten, denn das eine Ende des Stabes war spitz und scharf. Doch das machte keinen Sinn, denn es war ein Amulett. Keine Waffe und kein Werkzeug. Zudem wusste Rebekka mit Gewissheit, dass der Stab zuvor nicht scharf gewesen war, denn sie hatte die Angewohnheit, es fest in ihrer Tasche zu halten, wenn sie von etwas gequält wurde. So wie sie es hier in dieser toten Stille getan hatte.
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Dann gab es aber nur eine Erklärung: Die Spindel musste hier in der Zelle geschärft worden sein. Doch Rebekka war es nicht gewesen, konnte es nicht gewesen sein, denn sie hatte kein Werkzeug hier, um etwas zu schärfen. Und sonst war niemand anderes hier. Damit konnte es nur eines sein: göttliches Eingreifen. Womit nur eine infrage kam: Frigg, der jenes Amulett gewidmet war. Somit offenbarte sich der geplagten Mutter eine eindeutige Botschaft, denn Frigg würde niemals einen Tochtermord entschuldigen. Zutiefst von ihrer eigenen Schwäche beschämt, verstärkte Rebekka ihren Griff um das Amulett. Ganz gleich was komme, sie würde für ihre Tochter bis zum Ende kämpfen.
Der nächste Teil der Geschichte wird in zwei Wochen, am 15. August 2025, veröffentlicht.
Admin - 07:39:52 @ Erzählung, Fiktion in Fiktion | Kommentar hinzufügen
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