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Blogpost aus Mora


2025-09-12

Der Säugling - Kapitel 1 -Teil 5

1
Schon einige Male hatten Licht und Schatten in dieser kleinen Zelle den Platz miteinander getauscht und immer einen neuen Schrecken zum Sehen, Hören oder Spüren mitgebracht. Rebekka hatte sicher in der kurzen Zeit hier mehr Angst verspürt als in ihrem ganzen bisherigen Leben. Doch nun verspürte sie kaum welche. Trotz ihrer schrecklichen Lage fühlte es sich nicht so an, als wäre sie einer direkten Gefahr ausgesetzt. Obwohl sie den Vampir immer noch hören konnte. Doch sein Atem klang nun ruhiger, nahezu schwach. Zudem erdrückte sie nicht mehr diese Präsenz. Rebekka fiel es schwer, diese zu umschreiben, denn so eindrücklich sie gewesen war, so formlos war sie auch. Es riss ihr Herz, ohne eine Klaue zu nutzen, stockte ihren Atem, ohne ihren Hals zu quetschen, und hielt sie fest, ohne sie zu packen. Es beschämte sie sehr, diesen Vergleich auch nur zu denken, doch das einzig Vergleichbare, was sie je verspürt hatte, was dies, was während der Messe in der Dorfkirche über sie kam: Gottes Präsens. Sich bereits schon wie eine Ketzerin fühlend, webte Rebekka diesen Gedanken nicht weiter, sodass sie merken konnte, dass doch noch eine Präsenz in dieser Zelle hier waltete. Doch diese fühlte sich überhaupt nicht bedrohlich an. Im Gegenteil, sie hatte etwas Zerbrechliches, Flehendes an sich. Fast wie …
2
Marie wimmerte erneut und nun endlich konnte Rebekka ihre ganze Aufmerksamkeit ihrem Säugling widmen, liebevoll über das kleine Gesicht streichend. Wobei sie letztendlich sicher wurde: Die neue Präsenz offenbarte Hilflosigkeit und das Verlangen nach Geborgenheit. Sie rückte in die andere Ecke, weg von dem röchelnden Vampir. Dies musste eine neue Täuschung sein. Das Monstrum tat nur so, damit sie ihre Wachsamkeit dämmte und …
3
Doch dies ergab keinen Sinn. Sie und Marie waren dem Vampir schutzlos ausgeliefert gewesen. Doch anstatt sie zu fressen, hatte er … Jetzt wo Rebekka in einer zähen Ruhe die letzten Minuten im Kopf durchgehen konnte, kam sie nur zu einem möglichen Schluss: Der Vampir hatte mit sich selbst gekämpft, sich selbst angegriffen, damit er sie und ihr Kind nicht anfiel. Aber auch dies konnte nicht sein: Ein Vampir stellte einen Verdammten dar, der sich von allen Göttern abgewendet hatte und damit jegliche Menschlichkeit verlor. Solch ein Wesen stellte nichts mehr als einen wandelnden Leichnam dar, eine Schändung allem, was gut und rechtens war.
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Und trotzdem konnte sie nicht anders, als Mitleid mit dem Vampir zu haben. Es verlangte ihr sogar, ihm zu helfen. Zuerst schreckte sie vor diesem Gedanken zurück, doch dann fragte sie sich, was Jesus in ihrer Lage tun würde. Der Sohn Gottes, der zu Erden kam und die Sünden der Menschen auf sich nahm. Der Gesalbte, der sich der Armen und Gepeinigten annahm. Der Hirte, der jedes verlorene Lamm suchte, denn für ihn war niemand wirklich verloren.
5
Auf einmal fühlten sich ihre Schultern leichter an und etwas von ihrer Erschöpfung fiel von ihr ab. Einen Entschluss gefasst habend, begann sie vorsichtig, ihr Kind an sich gedrückt haltend, dem Keuchen folgend zu kriechen. Hierbei stießen ihre Finger auf dem Boden in etwas hinein, dass sich wie eine hölzerne, nasse Schale anfühlte. Hastig wischte sie es zur Seite, sich nicht darüber wundern wollend, was dies gewesen war. Als sie den Vampir ertastete, zog sie seinen Kopf auf ihren Schoß, was einiges Hin und Her benötigte, wegen der Dunkelheit und dem Umstand, sie auf keinen Fall ihre Marie ablegen wollte. Als es Rebekka letztendlich gelang, zog sie ihr Kleid etwas von der Brust herunter und tat etwas, was selbst Jesus nicht hätte tun können. Zumindest nicht in dem Fleisch, in welchem er auf Erden wandelte.
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Als Filippo seine Augenlider öffnete, wurde er von einem äußerst hässlichen Fuß begrüßt, der gerade in seinem Blickfeld auf den Steinboden gesetzt wurde und sogleich sich hebend wieder verschwand. Mühsam die Kräfte in seinem von schmerzender Steife heimgesuchten Körper zusammenklaubend, erhob er, sich auf seine Hände stützend, Kopf und Brust, sodass er die beiden Ghuls erblickte, die sich unheilvoll der Eichhornfrau näherten. Schon streckte der eine die unheilvoll langen Armen nach ihr aus, worauf die Frau schrie: „Fass mich nicht an, du Scheusal!“ Tatsächlich stieß der andere Ghul in dem Moment unmenschliche Laute aus, welche den ersten innehalten ließen. Im Schein der von dem einen gehaltenen Fackel schienen die beiden ernsthaft zu diskutieren, bis sie eine Einigung gefunden hatten. Bis sie beide mit gespaltenen Wangen und geweiteten Mäulern ihre beiden Blicke auf den Säugling richteten.
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„Wagt es nicht, sich ihr auch nur nähern!“, brüllte Filippo mit unvertrauter Macht und sein Leib erhob sich in einer einzigen kräftigen Bewegung. Perplex stand er da, die beiden Ghuls und die Frau anstarrend, die das gleiche in seine Richtung taten. Nach all dem Leiden und sich auf dem Boden Winden fiel es ihm plötzlich so leicht, auf die Füßen zu kommen. Ja, auch wenn sein Körper schmerzte, so strömte eine Wärme durch ihn, die ihn antrieb, Kraft gab. Aber woher kam diese Kraft? Warum war seine Schwäche gewichen? Filippo sah nur eine Möglichkeit und dieser Gedanke stieß ihn in tiefe Reue.
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Die Laute der Ghuls rissen ihn aus seinen Überlegungen und er sah, wie die beiden furchtsam nähertraten, sich unterwürfig verbeugend. Sie kannten ihn als einen Herrn an. Als einen Vampir. Dies ließ die Reue in blanke Wut umschlagen und ehe er sich versah, stürzte er sich auf den Ghul mit der Fackel und legte der unheiligen Kreatur die Hände um den Hals. Das Monstrum riss die riesigen Augen weit auf, sodass es für Filippo so schien, als würde er in zwei Abgründe starren, während er ihm die Luft abschnürte. Sogleich begann der Ghul erdrückte Laute herauswürgend sich zu wehren, wobei er mit der Fackel nach Filippo ausschlug und so am Rücken sein Hemd in Brand setzte. Der ungeheure Schmerz ließ den jungen Vampir noch heftiger zudrücken, worauf im nächsten Moment ein furchtbares Knacken ertönte. Die Frau schrie, während der Ghul erschlaffte und ihm die Fackel entglitt. Filippo ließ den leblosen Körper fallen, um sich hastig das brennende Hemd über den Kopf zu ziehen und wegzuwerfen. Ehe er sich überhaupt Gedanken darüber machen konnte, was gerade geschehen war, was er gerade getan hatte, sah er aus dem Augenwinkel den anderen Ghul an ihm vorbei hetzen, in Richtung der Tür. Erneut reagierte er einfach nur und stürzte sich auf diesen. Zumindest war dies seine Reaktion gewesen, doch was sein Körper stattdessen tat, glich mehr einem Springen, fast schon einem Fliegen. Denn wie ein Pfeil schlug er in den Rücken des Ghuls ein und stieß ihn voran gegen die Wand neben der Tür. Stumpfer Schmerz breitete sich über Filippos gesamte Vorderseite aus, doch dies stellte kein Vergleich zum dar, was der Ghul erlitt. Denn der junge Vampir hörte diesmal nicht nur, sondern spürte direkt, wie das Fleisch des Scheusals unter der Wucht seines Körpers zerquetscht und von den brechenden Knochen zerstochen wurde.
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Fassungslos taumelte er zurück, vor ihm der zweite tote Ghul wie ein nasser Sack von der Wand herabrutschend. Er hatte zwei Wesen getötet. Scheusale zwar, aber trotzdem. Und es war ihm so leichtgefallen und dies ließ ihn sich elend fühlen. Noch elender ließ ihn aber fühlen, was er zuvorgetan haben musste. Es bedurfte seiner gesamten Willenskraft, sich umzudrehen und langsam auf die Frau zu zuschreiten, wobei er die Fackel aufhob. „Es tut mir so äußerst leid“, bat er um Vergebung, die wohl nicht einmal der angeblich allgütige Gott der Christen aufbringen könnte. „Ich versuchte gegen den Durst anzukämpfen, doch ich war zu schwach.“ „Aber das warst du doch nicht“, antwortete die Eichhornfrau unerwartet. „Du hast mir nichts getan.“ Filippo konnte ihr nicht glauben, doch als er ihren Hals im Schein der Fackel näher betrachtete, wobei sie etwas zurückrutschte, sah er, dass sie unverletzt war. Zwar würde ihr braunes Fell jegliche Verletzung am Hals verbergen, doch müsste es selbst blutverschmiert sein und diesen Kontrast würde er sogar in dem unreinen Licht einer Fackel sehen. „Bei den Göttern, dann habe ich etwa dein …?“ kam er zum nächstliegenden Schluss. Dafür konnte Hel nicht anders, als ihn direkt in den Schlund Nidhöggs zu werfen. Sofern selbst der Magen eines immer hungrigen Drachen einen Schänder wie ihn ertragen konnte.
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„Nein, nein, meiner Marie ist auch nichts passiert“, versicherte die Frau ihm und schob ihren buschigen Schwanz zur Seite, unter ihm einen wimmernden, aber unversehrtee Säugling offenbarend. Nun ergab aber überhaupt nichts mehr einen Sinn für Filippo. Wenn er weder von Mutter noch vom Kind Blut getrunken hatte, warum war dann sein Leib gestärkt? „Wie fühlst du dich?“, fragte die Frau plötzlich, was ihn sie perplex ansehen ließ. Wie kam sie auf diese Frage? Doch als sich eine Antwort in seinem Kopf formte, begriff er, dass es tatsächlich eine gute und sehr berechtigte Frage war. Denn er erwiderte: „Ich … spüre Stärke. Aber auch Schmerz. Und ich fürchte mich.“ Er sah auf seine freie, zitternde Hand herab. „Die Furcht ist zu mir zurückgekehrt. Meine Gefühle. Meine Menschlichkeit.“ Sogleich fragte er sich, ob er geheilt war. Doch das konnte nicht sein: Vampirismus war unheilbar. Die Verdammten waren von Leben und Tod ausgeschlossen, ohne eine Möglichkeit, zurückzukehren. Außerdem, was er gerade den Ghuls angetan hatte, konnte nur mit der unmenschlichen Kraft eines Vampirs möglich gewesen sein. „Das ist gut zu hören“, teilte die Frau ihm mit und tatsächlich lächelte sie ihn an. Wie konnte sie dies aber hier, in einer finsteren Zelle einem Vampir gegenüber?
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Was hier vor sich ging, musste Filippo später herausfinden. Denn nun galt es, Mutter und Kind in Sicherheit zu bringen. „Wir müssen von hier weg“, beschloss er kurzerhand und streckte seine Hand der Frau entgegen. Doch diese schreckte vor ihr zurück, nur um sich dann überraschenderweise zu entschuldigen: „Verzeih mir. Ich fürchte mich nur davor, dass du deine Kraft nicht vollkommen in deiner Gewalt hast.“ Sie warf einen vielsagenden Blick zu den beiden Leichnamen, worauf Filippo ihren Punkt vollkommen verstehend, hastig seine Hand zurückzog. „Doch wir müssen wirklich die Gelegenheit zur Flucht ergreifen. Kannst du aufstehen?“ „Ich muss“, erwiderte die Eichhornfrau angeschlagen, aber fest. Sogleich erhob sie sich und stand, zwar auf zitternden Beinen, aber fest entschlossenen dreinblickend vor ihm. „Wie ist dein Name? Ich bin Rebekka und das ist meine Marie.“ „Filippo“, antworte der junge Vampir. Erneut lächelte die Frau: „Danke für alles, Filippo.“

Der nächste Teil der Geschichte wird in zwei Wochen, am 26. September 2025, veröffentlicht.

Admin - 09:24:35 @ Erzählung, Fiktion in Fiktion | Kommentar hinzufügen

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